Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
großen italienischen Modemarken protestierten gegen das Geschäft mit den Fälschungen erst zu dem Zeitpunkt, als die Antirnafia-Kommission dessen Mechanismen aufgedeckt hatte. Vorher hatten sie nie eine Kampagne gegen die Clans geplant, nie Anzeige erstattet und sich auch nie bei der Presse darüber beklagt, daß sie durch den parallelen Markt Einbußen erlitten. Es erscheint zunächst unverständlich, warum die Nobelfirmen nichts gegen die Clans unternahmen. Wahrscheinlich gibt es eine Vielzahl von Gründen. Eine Anzeige hätte bedeutet, für immer auf die billigen Arbeitskräfte in Kampanien und Apulien verzichten zu müssen. Die Clans hätten den Zugang zu den Textilfabriken um Neapel versperrt und die Beziehungen zu den Fabriken in Osteuropa und Asien gestört. Eine Anzeige hätte den Verkauf über den Einzelhandel erschwert, denn viele Geschäfte waren direkt in der Hand der Clans. Vertrieb, Vertreter und Transport unterstehen vielerorts direkt den Familien. Eine Anzeige hätte die Preise für den Vertrieb in die Höhe getrieben. Im übrigen schadete das kriminelle Vorgehen der Clans dem Image der Modemarken keineswegs, sondern nutzte einfach deren werbeträchtiges und symbolisches Charisma. Die von den Clans produzierten Modelle waren weder häßlicher noch minderwertiger als die Originale. Sie machten den Markennamen keine Konkurrenz, sondern verbreiteten Produkte, deren ursprünglicher Preis für ein größeres Publikum unerschwinglich war. Wenn praktisch niemand mehr die Kleider einer bestimmten Marke trägt und sie nur noch auf dem Laufsteg an lebendigen Menschen zu bewundern sind, dann schlafen die Geschäfte allmählich ein und das Prestige verliert sich. Außerdem wurden in den Fabriken Neapels gefälschte Kleider und Hosen in Größen hergestellt, die die Marken aus Imagegründen nicht produzieren. Die Clans dagegen kümmerten sich, sofern Profit winkte, nicht um Imageprobleme. Durch die echten Fälschungen und die Einnahmen aus dem Drogengeschäft konnten sie Geschäfte und Einkaufszentren in die Hand bekommen, in denen immer häufiger Originalmodelle mit falschen Originalen gemischt wurden, um jede Unterscheidung unmöglich zu machen. In gewisser Weise hatte das System die legale Modewelt in einer Zeit steigender Preise gerettet oder vielmehr die Krise des Marktes genutzt. Mit unvorstellbarem Gewinn hatte das System das »Made in Italy« weiterhin überall auf der Welt verbreitet.
In Secondigliano hatte man begriffen, daß ein feinmaschiges Vertriebsnetz von eminenter Bedeutung war, mindestens ebenso wichtig wie für den Drogenhandel. Die Kanäle für den Vertrieb von Kleidungsstücken waren in vielen Fällen dieselben wie für die Drogen. Dabei beschränkten sich die Unternehmer des Systems nicht auf den Textilsektor, sondern investierten auch in Technologie. Aus den Ermittlungsberichten des Jahres 2004 geht hervor, daß die Clans in Europa über ihr Vertriebsnetz auch verschiedene High-Tech-Produkte vertrieben. Aus Europa kamen das Äußere, die Marke, die Bekanntheit und die Werbung, aus China das Innere, das Produkt als solches, die billige Herstellung, die lächerlich geringen Materialkosten. Das System Camorra führte beides zusammen und erwies sich so auf allen Märkten als siegreich. Die Clans hatten erkannt, daß die Wirtschaft darniederlag, und waren den Unternehmen, die sich aus dem Süden Italiens allmählich zurückzogen und die Produktion nach China verlagerten, gefolgt. Dort entdeckten sie die chinesischen Industriegebiete, die für die großen westlichen Firmen produzierten. So orderten auch sie große Partien von High-Tech-Produkten, um sie in Europa - natürlich unter falschem, profitträchtigerem Markennamen - zu verkaufen. Doch die Clans gaben sich nicht mit dem Augenschein zufrieden, sondern probierten wie bei den Drogen die Qualität der chinesischen Lieferungen zuerst aus. Und erst nachdem die Produkte auf dem Markt ihre Tauglichkeit bewiesen hatten, eröffneten sie einen der blühendsten Zweige in der Geschichte der internationalen kriminellen Handelswege. Digital- und Videokameras, aber auch Werkzeugmaschinen: Bohrmaschinen, Flex, pneumatische Hämmer, Schleif- und Hobelmaschinen, alle unter den Markennamen Bosch, Hammer und Hilti verkauft. Der Boss von Scondigliano, Paolo di Lauro, hatte, zehn Jahre bevor der italienische Unternehmerverband überhaupt Handelsbeziehungen in Asien anknüpfte, bereits in chinesische Fotoapparate investiert. In Osteuropa wurden von Di Lauros
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