Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Clan unter der Marke Canon und Hitachi Tausende von Artikeln vertrieben. Waren, die anfangs nur für die Ober- und Mittelschicht erschwinglich waren, wurden einem breiten Pub lik um zugänglich. Die Clans usurpierten nur den Markennamen, um besser anzukommen, das Produkt selbst war praktisch das gleiche.
Die Investitionen der Clans Di Lauro und Contini in China
- wie sie aus den Ermittlungen der neapolitanischen Antimafia-Einheit 2004 deutlich werden - zeigen die unternehmerische Weitsicht der Bosse. Die Zeit der Großunternehmen ging zu Ende, und die kriminellen Großstrukturen lösten sich ebenfalls auf. In den achtziger Jahren war die Nuova Camorra Organizzata von Raffaele Cutolo eine Art Riesenkonzern unter zentraler Führung. Dann kam die Nuova Famiglia von Carmine Alfieri und Antonio Bardellino, ein Zusammenschluß wirtschaftlich autonomer, durch gemeinsame operative Interessen verbundener Fa mili en, aber als Ganzes immer noch ein Ungetüm.
Heute hingegen hat die Flexibilisierung der Wirtschaft bewirkt, daß kleine Gruppen von Bossen als Manager mit Hunderten von Geschäftspartnern, die genau beschriebene Aufgaben zu erfüllen haben, das ökonomische und soziale Gefüge bestimmen. Eine horizontale Struktur, flexibler als die Cosa Nostra, durchlässiger für neue Bündnisse als die ‘Ndrangheta und in der Lage, immer wieder neue Clans aufzunehmen, neue Strategien zu entwerfen, neue Märkte zu erobern. Dutzende von Polizeioperationen der letzten Jahre haben bewiesen, daß sowohl die sizilianische Mafia als auch die ‘Ndrangheta sich mit den neapolitanischen Clans ins Benehmen setzen mußten, um den Kauf großer Partien Drogen auszuhandeln. Die neapolitanischen und kampanischen Kartelle lieferten Kokain und Heroin zu so günstigen Preisen, daß dieser Weg in vielen Fällen bequemer und wirtschaftlicher war als der direkte Kontakt zu den südamerikanischen und albanischen Händlern.
Trotz dieser Neustrukturierung der Clans ist die Camorra gemessen an der Zahl ihrer Mitglieder die größte kriminelle Organisation Europas. Auf jeden sizilianischen Mafioso kommen zwei kampanische Camorristen, auf jedes Mitglied der ‘Ndrangheta sogar acht. Das Drei-, ja Vierfache der anderen Organisationen. Da der Mafia mit ihren Bomben nach wie vor eine geradezu obsessive Aufmerksamkeit geschenkt wird, sind die Medien so weit abgelenkt, daß die Camorra praktisch unbekannt bleibt. Im Zuge der postfordistischen Restrukturierung der kriminellen Gruppen haben die neapolitanischen Clans auch ihre Leistungen für die Massen gekürzt. Der erhöhte Druck der Kleinkri min alität, der sich in der Stadt bemerkbar macht, ist das Ergebnis der Lohnkürzungen durch die Neuordnung der kriminellen Kartelle während der letzten Jahre. Die Clans müssen ihr Gebiet nicht mehr bis in alle Ecken militärisch kontrollieren, oder jedenfalls nicht ständig. Die wichtigsten Geschäfte der camorristischen Gruppen finden außerhalb Neapels statt.
Wie die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft Neapel beweisen, hat die föderative und flexible Struktur der Camorra das Gewebe der Familien vollkommen verändert: heute kann man nicht mehr von politischen Bündnissen, von festen Verträgen sprechen, sondern eher von Joint-ventures. Die Flexibilität der Camorra ist die Antwort darauf, daß heute das Kapital schneller umgewälzt werden muß. Deshalb werden Gesellschaften gegründet und wieder aufgelöst, Geld zirkuliert ohne Hindernisse und wird ohne die Notwendigkeit, ein bestimmtes Gebiet zu kontrollieren, und ohne politische Vermittlung in Immobilien investiert. Heute müssen sich die Clans nicht mehr zu riesigen Organisationen zusammenschließen. Deshalb können jetzt ein paar Leute auf eigene Faust einen Raubüberfall unternehmen, Schaufenster plündern oder Einbrüche begehen, ohne daß sie wie in der Vergangenheit damit rechnen müssen, von den Clans massakriert oder diszipliniert zu werden. Die Banden, die Neapel heute terrorisieren, bestehen nicht ausschließlich aus Individuen, die ein Verbrechen begehen, um an Geld zu kommen, ein Luxusauto zu kaufen oder einfach bequem zu leben. Oft setzen sie darauf, durch den Umfang und die Gewalttätigkeit ihrer
Aktionen ihr ökonomisches Standing zu verbessern, so daß die Clans oder ihre Geschäftspartner mit ihnen ins Gespräch kommen müssen. Das Gewebe der Camorra besteht einerseits aus Gruppen, die wie gierige Blutsauger jede ökonomische Aktivität behindern, andererseits aus solchen, die als
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