Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Handlanger zur Verfügung standen. In dieser Gegend würden bald die Baustellen für die Stadterweiterung entstehen. Gennaro Licciardi konnte seine Strategie nicht vollständig in die Tat umsetzen, denn er starb mit nur achtunddreißig Jahren im Gefängnis an einem banalen Leistenbruch, ein wahrhaft klägliches Ende für einen Boss. Und dies um so mehr, als er in seiner Jugend, während er in einer der Sicherheitszellen des Justizpalasts von Neapel auf seinen Prozeß wartete, bei einer Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern der Nuova Camorra Organizzata von Cutolo und ihren Hauptgegnern, der Nuova Famiglia, von sechzehn Messerstichen durchbohrt worden war. Damals hatte er überlebt.
Die Familie Licciardi verwandelte diese Gegend, die höchstens billige Hilfskräfte lieferte, in eine Maschine für den Drogenhandel: in ein internationales kriminelles Unternehmen. Tausende wurden kooptiert, als Mitglieder aufgenommen und im System zerschlissen. Text ilin dustrie und Drogen. In allererster Linie Handelsinvestitionen. Nach dem Tod von Gennaro »‘a scigna« übernahmen die Gebrüder Pietro und Vincenzo das militärische Kommando, die Zügel der Wirtschaftsmacht des Clans aber hielt Maria mit dem Spitznamen »‘a piccerella« (die Kleine) in der Hand.
Nach dem Fall der Berliner Mauer leitete Pietro Licciardi die Masse seiner legalen und illegalen Investitionen nach Prag und Brünn um. Die Tschechische Republik geriet vollständig unter die Herrschaft der Secondiglianesen, die auch hier von der Peripherie aus agierten, um die Märkte in Deutschland zu erobern. Pietro Licciardi wirkte wie ein Manager und wurde von den mit ihm verbündeten Unterne hm ern der »römische Imperator« genannt, weil er so anmaßend auftrat, als sei die ganze Welt nur das Hinterland von Secondigliano. Er hatte ein Bekleidungsgeschäft in China und eine Handelsniederlassung in Taiwan eröffnet, um von dort aus auch auf den chinesischen Markt vorzustoßen, statt nur die billigen Arbeitskräfte auszubeuten. Im Juni 1999 wurde er in Prag verhaftet. Er griff bedenkenlos zur Gewalt und soll laut Anklage 1998 das Bombenattentat in der Via Cristallini im berüchtigten Viertel Sanita in Neapel in Auftrag gegeben haben. Mit dieser Autobombe sollten in dem Konflikt zwischen den Clans der Peripherie und denen der Innenstadt nicht nur die Verantwortlichen in den Clans, sondern das ganze Viertel bestraft werden. Bei der Explosion des Autos flogen Blechteile und Glassplitter wie Geschosse durch die Luft und verletzten dreizehn Menschen. Pietro Licciardi wurde jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Der Clan hat inzwischen den größten Teil seiner unternehmerischen Aktivitäten in der italienischen Textilindustrie und im Handel nach Castelnuovo del Garda in Venetien verlegt. Nicht weit entfernt, in Portogruaro, wurde Vincenzo Pernice, Pietro Licciardis Schwager, zusammen mit einigen Partnern des Clans verhaftet, darunter Renato Peluso aus Castelnuovo del Garda. Mit dem Clan verbündete Kaufleute und Unternehmer aus Venetien deckten Pietro Licciardi, als er untergetaucht war, und standen somit dem kriminellen Unternehmen nicht nur nahe, sondern gehörten fest dazu. Die Licciardi unterhielten neben ihrem gutorganisierten Wirtschaftsimperium auch einen militärischen Apparat. Seit der Verhaftung von Pietro und Maria wird sowohl der militärische als auch der ökonomische Teil des Unternehmens von dem untergetauchten Boss Vincenzo dirigiert.
Der Clan war immer besonders rachsüchtig. Als Vincenzo Esposito, der Neffe von Gennaro Licciardi, mit nur einundzwanzig Jahren 1991 in Monterosa, einem Territorium der Prestieri, einer der Familien der Alleanza, ermordet worden war, übten sie blutige Rache. Esposito hieß, weil er der Neffe der Herrscher von Secondigliano war, »il principino« (der kleine Prinz). Er war auf dem Motorrad unterwegs, um einige Leute wegen Gewalttätigkeiten gegen seine Freunde zur Rede zu stellen. Da er einen Helm trug, verwechselten sie ihn mit einem Killer und schossen ihn nieder. Die Licciardi beschuldigten die Di Lauro, enge Verbündete der Prestieri, die Mörder besorgt zu haben, und nach den Aussagen des Kronzeugen Luigi Giuliano ermordete Di Lauro selbst den »principino«, weil er sich allzusehr in bestimmte Geschäfte einmischte. Was auch immer das Motiv gewesen sein mag, war die Machtposition der Licciardi so unangreifbar, daß sie die beteiligten Clans zwingen konnten, selbst die Verantwortlichen für den Tod von Esposito
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