Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Ascoli Piceno und Frosinone erhalten hatte, setzte sie enorme Summen um. Seit Jahren hatten die Nuvoletta auch in Spanien investiert. Nocera fuhr nach Teneriffa, um sich mit Armando Orlando, den die Ermittler für einen der Spitzenleute des Clans halten, wegen der Ausgaben für den Bau des imposanten Marina Palace auseinanderzusetzen.
Nocera warf seinem Geschäftspartner vor, durch die Verwendung zu teuren Materials die Kosten in die Höhe getrieben zu haben. Ich kenne den Marina Palace nur aus dem Internet, die Website zeigt eine riesige Ferienanlage mit Pool-Landschaft und viel Beton, den die Nuvoletta errichten ließen, um am boomenden Tourismusgeschäft Spaniens zu partizipieren.
Paolo Di Lauro begann seine kriminelle Laufbahn in Marano im Dienste der Nuvoletta. Allmählich entfernte er sich jedoch von ihnen und wurde in den neunziger Jahren die rechte Hand und dann der Stellvertreter des Bosses von Ca-stellammare, Michele D’Alessandro, als dieser untertauchte. Di Lauro plante, den Drogenhandel nach demselben Prinzip zu organisieren wie Geschäfts ketten und Textilfabriken. Der Boss sah voraus, daß das nördliche Hinterland von Neapel, nachdem Gennaro Licciardi im Gefängnis gestorben war, zum größten Drogenmarkt Italiens und Europas werden konnte. Ganz in der Hand seiner Männer. Paolo Di Lauro agierte stets in aller Stille, seine Qualitäten waren eher die eines Managers als die eines Killers, er griff nie offen auf das Territorium anderer Bosse über und war nicht von Ermittlungen oder Hausdurchsuchungen betroffen.
Als einer der ersten deckte der Kronzeuge Gaetano Conte das Organigramm von Di Lauros Imperium auf. Dieser Kronzeuge hat selbst eine interessante Geschichte. Zuerst war er Carabiniere und gehörte in Rom zur Leibwache von Francesco Cossiga, dem ehemaligen Staatspräsidenten. Seine Fähigkeiten als Bodyguard eines Staatspräsidenten qualifizierten ihn für die Aufna hm e in den Kreis um den Boss Di Lauro. Nachdem er im Auftrag des Clans Schutzgelder erpreßt hatte und im Drogengeschäft tätig war, entschied er sich für die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft und enthüllte Informationen und Einzelheiten, wie sie nur ein Carabiniere liefern konnte.
Paolo Di Lauro ist bekannt als »Ciruzzo ‘o millionario« (Schnuckelbär, der Millionär), ein lächerlicher Spitzname, aber Bei- und Spitznamen haben eine eigene Logik und Geschichte.
Ich habe nie gehört, daß die Mitglieder des Systems anders als mit ihrem Spitznamen bezeichnet werden, so daß der Eigenname in vielen Fällen verschwindet und gar nicht mehr bekannt ist. Einen Beinamen wählt man nicht, er entsteht plötzlich aus irgend etwas, aus irgendwelchen Gründen und wird von anderen aufgegriffen. Die Decknamen der Camorra entstehen aus reinem Zufall. Paolo Di Lauro wurde vom Boss Luigi Giuliano »Ciruzzo ‘o millionario« getauft, weil er eines Abends sah, wie Di Lauro zum Pokern kam und aus seiner Tasche Dutzende von Hundertausend-Lire-Scheine fallen ließ. Da rief Giuliano aus: »Kommt da etwa Schnuckelbär, der Millionär?« Ein Name, wie man ihn in leicht angetrunkenem Zustand erfindet, aus dem Moment heraus, absolut treffend.
Die Auswahl an Beinamen ist unendlich. Carmine Alfieri, der Boss der Nuova Famiglia, hieß »‘o ‘ntufato«, der Wütende, weil sein Gesichtsausdruck immer Unzufriedenheit oder Wut signalisierte. Dann gibt es Spitznamen, die schon die Vorfahren der Familie trugen und die sich weitervererben, wie bei dem Boss Mario Fabbrocino, der mit dem Kapital der neapolitanischen Camorra Argentinien kolonisiert hat. Er hieß »‘o graunar«, der Kohlenhändler, weil seine Vorfahren diesem Gewerbe nachgegangen waren. Manche Spottnamen beziehen sich auf Vorlieben einzelner Camorristen wie bei Nicola Luongo, der »‘o wrangler« hieß, weil er nur den gleichnamigen Geländewagen fuhr, der zur Lieblingsautomarke des ganzen Systems wurde. Andere Namen sind auf bestimmte körperliche Merkmale zurückzuführen, so Giovanni Birra, genannt »‘a mazza« (die Stange), weil er groß und schlank war, Con-stantino Iacomino ist bekannt als »capaianca« (weißes Haupt), weil er schon früh graue Haare hatte, Ciro Mazzarella »‘o scel-lone« (die große Schulter) wegen seiner vorstehenden Schulterblätter, Nicola Pianese »‘o mussuto« (Klippfisch) wegen seiner auffallend hellen Haut, Rosario Privato »mignolino« (Kleiner Finger) und Dario De Simone »‘o nano« (der Zwerg). Dann gibt es unerklärliche Namen wie den
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