Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
zu beseitigen. Innerhalb weniger Tage wurden vierzehn Menschen, die direkt oder indirekt in die Ermordung des jungen Thronfolgers verwickelt waren, umgebracht.
Dem System ist es auch gelungen, das klassische Geschäft der Erpressung und des Wuchers auf ein neues Niveau zu heben. Da die Bosse erkannt hatten, daß der Handel immer mehr liquide Mittel brauchte, während die Banken immer härtere Bedingungen stellten, schalteten sie sich zwischen Groß-und Einzelhandel ein. Die Kaufleute können Warenlieferungen entweder in bar oder mit Wechsel bezahlen. Wenn sie bar bezahlen, liegt der Preis bei der Hälfte oder zwei Dritteln dessen, was sie mit Wechsel bezahlen würden. Deshalb ist sowohl der Geschäftsinhaber als auch der Großhändler an Barzahlung interessiert. Die Clans bieten Bargeld zu einem durchschnittlichen Zinssatz von zehn Prozent. Dadurch entsteht automatisch ein faktisches Vertragsverhältnis zwischen dem Geschäftsinhaber als Käufer, dem Verkäufer und dem heimlichen Finanzier, das heißt den Clans. Die Gewinne werden halbehalbe geteilt, aber es kommt vor, daß die Verschuldung des Einzelhändlers immer höhere Prozentsätze in die Kassen des
Clans fließen läßt, so daß der Kaufmann am Ende nur noch als Strohmann fungiert, der ein festes Gehalt bekommt. Die Clans nehmen nicht wie die Banken einem zahlungsunfähigen Kunden alles weg, sondern nutzen die immobilen und mobilen Güter und lassen die erfahrenen Menschen, die ihren Besitz verloren haben, weiter damit arbeiten. Nach den Aussagen eines Kronzeugen während der Ermittlungen der AntimafiaEinheit im Jahr 2004 werden etwa 50 Prozent der Geschäfte allein in Neapel aus dem Hintergrund von der Camorra gesteuert.
Die Erpressung, bei der wie in Nanni Loys Film Picone schickt mich an Weihnachten, Ostern und Ferragosto der Abgesandte der Bosse Schutzgeld verlangt, ist längst überholt und wird nur noch von Gruppen betrieben, die zu überleben suchen, aber keinerlei unternehmerische Qualitäten besitzen. Alles hat sich geändert. Die Nuvoletta aus Marano im Norden von Neapel haben eine viel differenziertere und effizientere Form der Erpressung entwickelt, die für beide Seiten Vorteile brachte und darauf basierte, den Einzelhändlern Lieferungen aufzuzwingen. Giuseppe Gala, mit Spitznamen »Showman«, wurde auf diese Weise einer der gesuchtesten Vertreter für Lebensmittelfirmen. Er vertrat die Firmen Bauli und Van Holten und hatte über die Vip Alimentari das Vertriebsmonopol der Par-malat in der Gegend von Marano erhalten. In einem von der Staatsanwaltschaft Neapel abgehörten Telefonat im Herbst 2003 brüstete sich Gala mit seinen Fähigkeiten als Vertreter: »Wir haben sie alle aus dem Feld geschlagen, wir sind die Stärksten am Markt.«
Die Firmen, die Gala vertrat, konnten fest damit rechnen, überall in seinem Territorium präsent zu sein und große Bestellungen einzufahren. Die Lebensmittelgeschäfte und Supermärkte auf der anderen Seite waren froh, Peppe Gala als Ansprechpartner zu haben, denn er konnte auf die Firmen und Großhändler Druck ausüben und Preisnachlässe herausschinden. Als Mann des Systems bürgte »Showman« dadurch, daß er den Transport kontrollierte, zudem für günstige Preise und pünktliche Lieferungen.
Der Clan plaziert das Produkt, für das er sich entscheidet, nicht durch Einschüchterungen, sondern dadurch, daß er Vorteile bietet. Die von Gala vertretenen Firmen erklärten, hilf los den Erpressungen der Camorra und dem Diktat der Clans ausgesetzt gewesen zu sein. Doch wenn man die - über den Berufsverband einsehbaren - Verkaufszahlen der Firmen, die sich in der Zeit von 1998 bis 2003 an Gala gewandt hatten, analysiert, stellt sich heraus, daß ihr Umsatz um 40 bis So Prozent gestiegen war. Mit seinen unternehmerischen Strategien gelang es Gala sogar, ein Liquiditätsproblem der Clans zu lösen. In der Weihnachtszeit setzte er einen Aufpreis auf den Panettone durch, um damit das dreizehnte »Monatsgehalt« für die Familien der Mitglieder des Nuvoletta-Clans zu finanzieren, die im Gefängnis saßen. Sein geschäftlicher Erfolg wurde »Showman« jedoch zum Verhängnis. Nach Darstellung einiger Kronzeugen erhob er Anspruch auf das Monopol im Drogenmarkt. Davon aber wollte die Familie Nuvoletta nichts wissen. Im Januar 2003 verbrannte Gala bei lebendigem Leib in seinem Auto.
Die Nuvoletta sind die einzige Familie außerhalb Siziliens, die in der »Cupola«, dem Leitungsgremium der Cosa Nostra, sitzen, nicht als
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