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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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heißt, daß Gennaro Marino, genannt McKay, der Kronprinz von Paolo Di Lauro, ans Krankenbett des sterbenden Jungen kam, um den Boss zu trösten. Seine Tröstung war willkommen. Di Lauro nahm ihn danach zur Seite und bot ihm einen Drink an. Er pißte in ein Glas und hielt es ihm hin. Dem Boss waren Informationen über bestimmte Verhaltensweisen seines Favoriten zu Ohren gekommen, die er in keiner Weise gutheißen konnte. McKay hatte eigenmächtig bestimmte unternehmerische Entscheidungen getroffen und Gelder abgezweigt, ohne darüber Rechenschaft abzulegen. Der Boss schloß daraus, daß sein Kronprinz sich selbständig machen wollte, war aber bereit, ihm zu verzeihen und das Verhalten als Übereifer dessen, der sein Metier zu gut versteht, hinzunehmen. Man erzählt sich, McKay habe das Glas bis auf den Grund ausgetrunken. Ein großer Schluck Pisse brachte das erste Beben, das sich innerhalb des Machtkartells des Clans Di Lauro ereignet hatte, zum Verebben. Ein fragiler Waffenstillstand, der einer Zerreißprobe nicht standhalten sollte.
Der Krieg von Secondigliano
    McKay und Angioletto hatten sich entschieden. Sie wollten als autonome Gruppe auftreten, alle älteren Führungsfiguren waren einverstanden, denn sie hatten unmißverständlich erklärt, nicht als Gegner, sondern nur als Konkurrenten zur Organisation aufzutreten. Als loyale Konkurrenten auf einem riesigen Markt. Seite an Seite, aber jeder für sich. Diese Botschaft ließen sie - nach den Aussagen des Kronzeugen Pietro Esposito - Cosimo Di Lauro, dem Leiter des Kartells, zukommen. Sie wollten mit seinem Vater Paolo sprechen, mit dem obersten Boss, dem Mann an der Spitze, dem ersten Ansprechpartner des Bündnisses. Mit ihm persönlich sprechen, ihm sagen, daß sie die von seinen Söhnen getroffenen Entscheidungen zur Sanierung der Geschäfte nicht guthießen. Sie wollten ihm in die Augen sehen, Schluß machen damit, daß ihre Meinung von Mund zu Mund weitergetragen und von der Spucke vieler Zungen gewendet wurde, da man kein Handy benutzen durfte, um die Spur des Untergetauchten nicht zu verraten. Genny McKay wollte Paolo Di Lauro treffen, den Boss, der ihm den Aufstieg als Unternehmer ermöglicht hatte.
    Cosimo akzeptiert formal diese Einladung zu einem Treffen, bei dem sich die gesamte Führung der Organisation versammeln soll, Bosse, Manager und die Verantwortlichen für ein Gebiet, die Capizona. Eine Absage kommt nicht in Frage. Aber Cosimo hat bereits einen genauen Plan, so schaut es zumindest aus. Anscheinend weiß er wirklich, wie er seine Geschäfte ausrichten und seine Verteidigung aufbauen muß. Wie nämlich aus den Ermittlungen und den Aussagen der Kronzeugen hervorgeht, läßt Cosimo nicht irgendwelche Untergebenen den Termin wahrne hm en. Er schickt nicht seinen »reitenden Boten« Giovanni Cortese, den offiziellen Sprecher, der für die Fa mili e Di Lauro bisher immer die Außenkontakte gepflegt hat. Cosimo schickt seine Brüder Marco und Ciro, um den Ort des Treffens auszukundschaften. Sie prüfen, ob die Luft rein ist, kündigen sich nicht an. Sie sind ohne Bodyguards vermutlich im Auto unterwegs. Schnell, aber nicht zu schnell. Sie stellen fest, daß Fluchtwege vorgesehen sind, Wachen aufgestellt, ganz unauffällig. Aus ihrem detaillierten Bericht wird Cosimo alles klar. Es war ein Hinterhalt geplant. Um Paolo und jeden, der ihn begleitet hätte, zu ermorden. Das Treffen ist eine Falle, um zu töten und eine neue Ära in der Führung des Kartells einzuleiten. Ein Imperium löst man nicht dadurch auf, daß man seine Hand zurückzieht, sondern indem man die des anderen abhackt. So berichtet man, so berichten Ermittlungen und Kronzeugen.
    Cosimo, dem sein Vater Paolo die volle Verantwortung für den Drogenhandel übertragen hat, muß entscheiden. Ein Krieg ist unvermeidlich, aber er erklärt ihn nicht, er merkt sich alles, will die Taktik der Gegner verstehen, seine Rivalen nicht mißtrauisch machen. Er weiß, daß sie sich bald auf ihn stürzen werden, er muß sich darauf gefaßt machen, ihre Krallen zu spüren, aber er will Zeit gewinnen, um eine präzise, unfehlbare, siegreiche Strategie zu entwickeln. Verstehen, auf wen er sich verlassen, über welche Kräfte er verfügen kann. Wer für ihn und wer gegen ihn ist. Mehr Platz gibt es auf dem Spielfeld nicht.
    Die Di Lauro rechtfertigen die Abwesenheit ihres Vaters damit, daß er von der Polizei gesucht wird und sich deshalb nur schwer bewegen kann. Seit mehr als zehn Jahren lebt er im

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