Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Untergrund. Ein Treffen abzusagen ist ganz normal für einen der dreißig meistgesuchten Verbrecher Italiens. Die größte unternehmerische Holding im nationalen und internationalen Drogengeschäft gerät in ihre schwerste Krise, nachdem sie jahrzehntelang perfekt funktioniert hat.
Der Di-Lauro-Clan war stets bestens organisiert. Der Boss hat ihn nach dem Prinzip der Multi Level Governance strukturiert. Auf einer ersten Ebene ist der Vertrieb und die Finanzverwaltung unter der Leitung der wichtigsten Manager des Clans angesiedelt, die Handel und Vertrieb der Drogen planen und kontrollieren: zu diesem Kreis gehören nach Angaben der neapolitanischen Ermittler: Rosario Pariante, Raffaele Ab-binante, Enrico D’Avanzo und Arcangelo Valentino. Auf der zweiten Ebene arbeiten diejenigen, die direkt mit den Drogen zu tun haben, sie kaufen und verpacken und den Vertrieb an die Dealer organisieren, denen im Falle einer Verhaftung ein Rechtsbeistand gestellt wird. Die wichtigsten Männer sind hier Gennaro Marino, Lucio De Lucia, Pasquale Gargiulo. Die dritte Ebene bilden die Capi der Umschlagplätze, das heißt diejenigen Mitglieder des Clans, die direkt mit den Dealern zu tun haben, die Posten organisieren, die Fluchtwege festlegen und sich um die Sicherheit der Warenlager und der Labors für den Verschnitt kümmern. Die Dealer sind die vierte Ebene, die am meisten exponiert ist. Jede dieser Ebenen ist in sich wiederum gegliedert und hat nur mit der jeweiligen Leitung Kontakt, nie mit der ganzen Struktur. Diese Organisation ermöglicht einen Profit von fünfhundert Prozent auf das ursprünglich investierte Kapital.
Das Unternehmensmodell der Di Lauro hat mich immer an das mathematische Konzept der Fraktale erinnert, wie es von den Handbüchern erklärt wird, an das Beispiel einer Bananenstaude, von der wiederum jede einzelne Banane eine Bananenstaude ist, die ihrerseits Bananenstauden sind, und so weiter bis unendlich. Der Clan Di Lauro setzt allein mit dem Drogenhandel fünfhunderttausend Euro täglich um. Dealer, Lagerverwalter und Boten gehören oft nicht zur Organisation, sondern sind einfache Angestellte. Tausende arbeiten dabei mit, wissen aber nicht genau, wer über ihnen steht. In der Regel ahnen sie, für welche Familie der Camorra sie arbeiten, aber nicht mehr. Sollte jemand verhaftet werden und sich bereit finden, mit der Justiz zusammenzuarbeiten, ist seine Kenntnis auf einen spezifischen, sehr kleinen Bereich beschränkt, ohne das ganze Organigramm, den riesigen Umfang der ökonomisch-militärischen Macht der Organisation zu erfassen.
Dem ökonomisch-finanziellen Ganzen steht ein militärisches Team zur Seite: eine gnadenlose Kampfeinheit und ein feinmaschiges Netz von Flankenschützern. Zu den Killern gehörten Emanuele D’Ambra, Ugo De Lucia, genannt »Uga-riello«, Nando Emolo »‘o schizzato« (der Verrückte), Antonio Ferraro »‘o tavano« (die Bremse), Salvatore Tamburino, Sal-vatore Petriccione, Umberto La Monica, Antonio Mennetta. In der Ebene darunter die Flanken Schützer, d.h. die Capizona für ein Gebiet: Gennaro Anita, Ciro Saggese, Fulvio Montanino, Antonio Galeota, Giuseppe Prezioso, der Bodyguard von Cosimo Di Lauro, und Costantino Sorrentino. Diese Organisation umfaßte insgesamt mindestens dreihundert Personen, die alle ein Gehalt bekamen. Innerhalb dieser komplexen Struktur herrschte eine präzise Ordnung. Es gab einen riesigen Wagen-und Motorradpark, der für Notfälle immer bereit sein mußte. Außerdem ein geheimes Waffenarsenal, verbunden mit einem Netz von Lieferanten, die bei einem Mordanschlag benutzte Waffen sofort vernichteten. Darüber hinaus war stets alles vorbereitet, damit die Killer unmittelbar nach der Tat an einem normalen Übungsschießstand trainieren konnten, wo jeder Besucher registriert wird, um die Schmauchspuren zu vermischen und auf diese Weise für derartige polizeiliche Analysen ein Alibi zu haben. Den Schmauch fürchten Killer am allermeisten, da er über längere Zeit haften bleibt und ein erdrückendes Beweismittel ist. Die Kampfeinheiten wurden teilweise sogar mit eigener Kleidung versorgt: ein unauffälliger Trainingsanzug und ein Motorradhelm, die nach dem Attentat sofort vernichtet wurden. Ein unangreifbares Unternehmen, perfekt - oder fast perfekt. Man macht keinen Versuch, die jeweiligen Schritte, einen Mord oder eine Investition zu verstecken, will sie nur für die Polizei nicht nachweisbar machen.
Ich fuhr seit einiger Zeit nach Secondigliano. Seit
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