Gone Girl - Das perfekte Opfer: Roman (German Edition)
das Empire State Building. Raubtiere beim Angriff, kollabierende uralte Eisberge, Vulkanausbrüche. Ich konnte mich an nichts Staunenswertes erinnern, was ich jemals aus erster Hand gesehen und nicht sofort in Bezug zu einem Film oder einer Fernsehsendung gebracht hätte. Oder zu einem blöden Werbespot. Wir alle kannten den schrecklichen blasierten Spruch: Kenn ich doch alles schon! Ja, ich hatte alles schon gesehen, buchstäblich, und das Schlimmste daran war – das, weshalb ich mir manchmal am liebsten das Hirn wegblasen wollte: Die Erfahrung aus zweiter Hand war immer die bessere. Das Bild war klarer, der Blick schärfer, Kamerawinkel und Soundtrack beeinflussten meine Emotionen auf eine Art, wie es die Realität längst nicht mehr konnte. Ich war nicht sicher, ob wir überhaupt noch menschlich waren, wir – und das waren die meisten –, die mit Fernsehen und Filmen und nun auch noch mit dem Internet aufgewachsen waren. Wenn man uns betrog, wussten wir, was wir sagen mussten, wenn ein geliebter Mensch starb, wussten wir, was wir sagen mussten. Egal, ob wir den Macker oder den Klugscheißer oder den Schwachkopf spielen wollten, wir wussten immer, was wir sagen mussten. Wir funktionierten alle nach dem gleichen eselsohrigen Skript.
Wir lebten in einer Zeit, in der es schwierig war, ein Mensch zu sein, eine reale, echte Person und nicht nur eine Ansammlung von Persönlichkeitszügen, ausgewählt aus einem endlosen Katalog von Charakteren.
Und wenn wir alle schauspielerten, konnte es so etwas wie einen Seelenpartner nicht geben, denn wir hatten ja keine authentische Seele mehr.
Der Punkt war gekommen, an dem nichts mehr eine Rolle zu spielen schien, weil weder ich noch sonst jemand eine reale Person war.
Ich hätte alles dafür getan, um mich wieder real zu fühlen.
Gilpin öffnete die Tür zu dem gleichen Raum, in dem ich in der Nacht zuvor verhört worden war. Jetzt stand Amys silberne Geschenkbox mitten auf dem Tisch.
Ich starrte regungslos auf den silbernen Würfel, der in dieser Umgebung seltsam unheimlich wirkte. Ein Gefühl des Grauens senkte sich auf mich herab. Warum hatte ich das Geschenk nicht schon vorher entdeckt? Ich hätte es doch finden müssen.
»Legen Sie los«, sagte Gilpin. »Wir wollen, dass Sie sich das anschauen.«
So vorsichtig, als könnte ein Kopf darin sein, öffnete ich die Schachtel. Aber darin fand ich nur einen cremig blauen Umschlag mit der Aufschrift ERSTER HINWEIS.
Gilpin schmunzelte. »Stellen Sie sich mal unsere Verwirrung vor – ein Vermisstenfall, und hier finden wir einen Umschlag, auf dem ERSTER HINWEIS steht.«
»Der ist für die Schatzsuche, die meine Frau …«
»Richtig. Zum Hochzeitstag. Ihr Schwiegervater hat es erwähnt.«
Der Umschlag enthielt ein dickes himmelblaues, einmal zusammengefaltetes Stück Papier – Amys persönliches Briefpapier. Mir stieg die Galle hoch. Diese Schatzsuchen hatten immer nur zu einer einzigen Frage geführt: Wer ist Amy? (Was denkt meine Frau? Was war für sie im letzten Jahr wichtig? Welche Augenblicke haben sie glücklich gemacht? Amy, Amy, Amy, lasst uns über Amy nachdenken.)
Mit zusammengebissenen Zähnen las ich den ersten Hinweis. Angesichts der Stimmung, die im letzten Jahr unsere Ehe beherrscht hatte, würde er garantiert ein höchst unvorteilhaftes Licht auf mich werfen. Und das brauchte ich eigentlich nicht.
Ich stelle mir vor, in die Schule zu gehn,
Und mein Lehrer ist schön und so klug,
Dass ich mich öffne in jedem Bereich,
doch damit nicht genug.
Bist du mein Lehrer, brauchst keine Blumen mir kaufen,
musst nur vom Büro direkt zu mir laufen.
Also beeil dich bitte – eins, zwei, drei,
Denn diesmal bring ich dir was bei.
Es war ein Wegweiser in ein anderes Leben. Wenn alles so gelaufen wäre, wie meine Frau es sich vorgestellt hatte, hätte sie gestern neben mir gestanden, während ich ihr Gedicht las, hätte mich erwartungsvoll beobachtet, und wie ein Fieber hätte sie Hoffnung ausgestrahlt: Bitte versteh es. Bitte versteh mich.
Irgendwann hätte sie dann gesagt: Und? Und ich hätte etwas Ähnliches geantwortet, wie ich nun Gilpin antwortete:
»Oh, das kenne ich. Bestimmt meint sie mein Büro. Im Junior College. Ich bin da Aushilfslehrer. Hmm. Ich meine, das muss es doch sein, oder nicht?« Ich kniff die Augen zusammen und las das Ganze noch einmal. »Dieses Jahr hat sie es mir aber leichtgemacht.«
»Soll ich Sie rüberfahren?«, fragte Gilpin.
»Nein, ich habe Gos Wagen.«
»Dann folge
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