Good Girls
Ich werde ihm oder ihr höchstpersönlich meinen violetten Stiefel in den Schlund schieben.« Sie streckt ihre langen Beine aus und zeigt einen violetten Wildlederstiefel mit acht Zentimeter hohem Absatz, um den sie jeder Transvestit beneiden würde. Würde jemand anderes so reden oder weinen, würde ich es wahrscheinlich für reine Show halten. Aber bei Joelle ist es was anderes. Sie meint, was sie sagt. Zumindest in dem Augenblick, in dem sie es sagt.
Eine magere Schülerin mit feuerrotem Haar und dämlichem Gesichtsausdruck beobachtet uns verstohlen. »Was glotzt du denn so?«, schnauzt Joelle sie an. Sie stupst mich in den Arm. »Ich würde zu gern wissen, wer von diesen unterernährten Gestalten zum Vorsprechen kommen will. Wir spielen bestimmt Antigone . Ms Godwin spielt das Stück alle vier Jahre. Ich muss dir wohl kaum sagen, dass die Rolle mir gehört. Niemand kann die Rolle besser spielen als ich. Ganz egal, welche Haarfarbe sie hat!«
»Da gebe ich dir recht«, sage ich. Ich bin nicht zum Vorsprechen gekommen. Ich will nur wissen, welches Stück gespielt wird, damit ich mir Gedanken über die Kulissen machen kann. Seit ich dreizehn und zu schüchtern war, um mitzuspielen, habe ich bei jedem Stück am Bühnenbild mitgewirkt. Manchmal gibt es viel und manchmal gibt es wenig zu tun.Heute hoffe ich auf ein üppiges Bühnenbild im mittelalterlichen Venedig. Damit ich mir den Kopf zerbrechen muss, wie ich mehrere funktionstüchtige Kanäle konstruieren kann. Und keine einzige Hirnzelle mehr übrig bleibt, um über irgendetwas anderes nachzudenken. Keine einzige Synapse, die unermüdlich winzige Kopien eines Blow Jobs verschickt. Keine einzige Nervenzelle, die über Luke DeSalvio pulsiert.
Joelle greift in ihre Tasche und zieht eine Liste hervor. »Hier sind noch ein paar Namen, die mir eingefallen sind.« Joelle heißt mit Nachnamen Lipschitz. Sie findet den Namen absolut inakzeptabel für einen Menschen. Und erst recht für eine Schauspielerin. Deshalb sucht sie nach einem glamouröseren Namen. Den wird sie annehmen, sobald sie mit der Schule fertig und nach New York abgehauen ist, um dort berühmt zu werden. Oder besser gesagt: Sobald ihr Vater sie hinfährt und wieder abholt, damit sie dort berühmt werden kann.
Ich werfe einen Blick auf die Liste. Dort steht:
Joelle Paris
Joelle Rom
Joelle Asien
Joelle Nepal
Joelle Genua
Joelle St. Petersburg
Joelle Quebec
»Und? Was sagst du dazu?«, sagt sie.
»Ich glaube, ich ahne, welches Thema dir vorgeschwebt hat«, sage ich.
»Welcher gefällt dir am besten?«
»Du hast Joelle Boise oder Joelle Long Island vergessen.«
Sie reißt mir die Liste aus der Hand. »Du bist viel zu traumatisiert, um das hier jetzt ernst zu nehmen. Ich schwöre, ich bringe denjenigen um, der dir das angetan hat. Diesen Stiefel werde ich ihm in den Schlund stecken.«
»Das hast du schon mal gesagt.«
»Und dann werde ich ihn mit meinem Auto überfahren.«
»Du meinst mit dem Auto deines Vaters.«
Der Rotschopf schielt noch einmal zu uns herüber und Joelle kreischt: »Und dich auch, wenn du nicht aufhörst, meine Freundin anzustarren! Sie ist schließlich kein ausgestopftes Tier!«
Natürlich drehen sich jetzt alle zu uns um und starren mich an wie ein ausgestopftes Tier. Joelle sagt ihnen, sie sollen endlich aufhören MICH ANZUSTARREN!! AUFHÖREN!! In diesem Moment schwingt die Tür auf und Ms Godwin betritt den Zuschauerraum. Die Leiterin der Theater-AG macht ihrem Namen alle Ehre. Sie ist erhaben wie eine Göttin und hat eine dunkle, sonore Stimme. Wie immer trägt sie ein langes, wallendes Oberteil samt Rock und elegante Schuhe, deren Absätze beim Gehen klappern.
»Wissen Sie, was ich gerne möchte?«, sagt sie und tritt an den Rand der Bühne. »Dass Sie aufhören herumzukreischen, Miss Lipschitz. Man kann Sie bis nach Sri Lanka hören.«
Alle beruhigen sich wieder – Joelle eingeschlossen – und warten darauf, dass uns Ms Godwin sagt, welches Stück wir dieses Jahr spielen und wie demnach die nächsten beiden Monate unseres Lebens verlaufen werden. Zuerst müssen wir allerdings die alljährliche Begrüßungsrede über uns ergehen lassen. Ich spreche den Text im Stillen mit:
»Hallo. Ich bin Victoria Godwin. Für euch Ms Godwin. Für diejenigen unter euch, die neu an der Schule oder zum ersten Mal in der Theater-AG sind: Ich bin die Leiterin der Theater-AG. Mit anderen Worten: Ich bin der Boss. Was ich sage, gilt. Ihr könnt weder mitentscheiden noch etwas
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