Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Dr. Weston im Stuhl zurück. Auf ihrem Schreibtisch lag eine silberne Stoppuhr auf einem gelben Notizblock. Auch meine Formulare lagen dort. Sie bedachte mich mit einem Lächeln, das nur die untere Hälfte ihres Gesichts mit einbezog. Ich wusste, dass mich dieses Lächeln beruhigen sollte, aber es machte mich nur noch nervöser.
»Wir führen diesen Prozess normalerweise schriftlich durch, aber weil ich gehört habe, dass du ein besonderer Fall bist, werde ich dir persönlich ein paar Fragen stellen, einverstanden? Beantworte sie einfach, so gut du kannst, und wenn du die Antwort nicht weißt, dann sagst du es mir.«
Ich wappnete mich: Wo ist deine Mutter? Warum hat sie dich heute nicht hergebracht? Welche Kleidung trägt man an Ostern? In welcher Hand sollte man beim Essen das Messer halten? Meine Hände umklammerten die Armlehnen meines Stuhls.
»Würdest du bitte in Dreierschritten von eins bis vierzig zählen? Ich werde die Zeit stoppen. Es fängt an mit eins, vier, sieben …?«
Ich blinzelte. Damit kam ich klar. »Zehn, dreizehn, sechzehn …«
»Gut. Ein Junge ist sechzehn Jahre alt, und seine Schwester ist doppelt so alt. Wenn der Junge vierundzwanzig ist, wie alt ist dann seine Schwester?«
So fragte sie ungefähr eine Stunde lang weiter. Es war das seltsamste Gespräch, das ich je geführt hatte, aber es machte Spaß. Ich verstand natürlich, dass das Ganze eine Prüfung war, aber in gewisser Weise sind solche Gespräche immer Prüfungen, und bei dieser hier verstand ich wenigstens die Regeln. In einer Welt der Ungewissheiten befand ich mich endlich wieder auf sicherem Terrain. Wenn ich ein Wort nicht verstand, erklärte sie es mir. Nur ganz selten musste ich eine Frage auslassen, und dann fragte sie mich einfach etwas anderes. Schließlich hörte sie auf zu fragen und sah mich an.
»Ausgezeichnet«, lobte sie. »Eine letzte Aufgabe habe ich noch für dich.«
Sie gab mir ein Blatt Papier und einen Bleistift. »Zeichne etwas für mich. Was du willst. Ein Haus, ein Mädchen, egal was.«
Von unserem Haus wollte ich nun wirklich kein Bild zeichnen. Mit Mädchen meinte sie vermutlich ein nicht-chinesisches Mädchen, deshalb zeichnete ich die einzige Art von Mädchen, die ich kannte, die Art, von der ich in Büchern
gelesen hatte: eine Prinzessin. Sie hatte lange blonde Haare und eine Krone auf dem Kopf und trug ein Cinderella-Ballkleid mit Puffärmeln und einer unglaublich schmalen Taille.
Als Dr. Weston das Blatt Papier entgegennahm und die Zeichnung sah, gab sie ein kurzes, bellendes Lachen von sich. Sie hatte sich sofort wieder unter Kontrolle und blätterte durch ihre Unterlagen, aber ich wusste trotzdem nicht, warum sie gelacht hatte. Während ich überlegte, ob es am Missverhältnis zwischen meinen Kleidern und den schönen Gewändern der Prinzessin gelegen hatte, war mir wohl deutlich anzusehen, wie verletzt ich war.
Nachdem sie einen Blick auf mein Gesicht geworfen hatte, erklärte sie rasch: »Deine Ergebnisse bei der mündlichen Prüfung waren so bedruckend, dass ich ganz vergessen hatte, wie jung du bist. Warum schaust du dir nicht ein wenig die Schule an, und wir sprechen uns später noch einmal, einverstanden?«
Ich nickte. Die jüngere Frau kam wieder herein und führte mich durch die Schule. Als Erstes zeigte sie mir eine Vitrine mit Schulpokalen in der Eingangshalle. Während sie von den vielen Auszeichnungen redete, die die Schule erhalten hatte, hatte ich nur Augen für die Fotos der Kinder, die sie gewonnen hatten. Sie trugen alle Blazer. An meiner Schule trug niemand Blazer. Wir nähten manchmal Blazer in der Fabrik, aber diese hier waren anders. Man sah, dass sie nicht aus Polyester waren. Die Schulblazer sahen steif aus und hielten die Schultern der Schüler im Zaum, sorgten dafür, dass sie nicht mehr Raum einnahmen, als ihnen zustand.
Die Schüler auf den Fotos entblößten beim Lächeln gleichmäßige weiße Zähne die zu ihrer makellosen weißen Haut passten. Würde ich die einzige Chinesin auf der ganzen Schule sein? Interessierte sich Harrison deshalb für mich? Die gerahmten Fotos waren übereinander angeordnet, die älteren
hingen unten. Auf den ältesten Klassenfotos waren nur Jungen zu sehen, dann Jungen und Mädchen gemischt. Aber eines schien sich mit Fortschreiten der Zeit kaum zu ändern: Hin und wieder tauchte ein dunkleres Gesicht auf, aber es blieb die absolute Ausnahme.
Danach wurde ich zu meiner Überraschung noch in verschiedene andere Gebäude geführt,
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