Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
auffiel.
Ich bewunderte die großen Äpfel. Die Äpfel, die genau wie damals sehr früh reif geworden waren. Und diesmal pflückte ich mir einen.
Ich verließ den Feldweg, ging ein Stück durch das ungemähte Gras zu dem Baum und pflückte mir einen großen Apfel herunter. Er wog schwer in meiner Hand, und ich konnte beinahe den Saft spüren, der unter der glatten, glänzenden Schale verborgen lag.
Ich möchte nicht behaupten, dass es Leben war, das ich in dem Apfel damals vermutete (heute denke ich anders darüber), aber man konnte meinen, dass eine bestimmte Kraft von der Frucht ausging, so warm und gleichzeitig erfrischend kühl fühlte sie sich an.
Ich biss hinein und genoss das herrlich saftige Fruchtfleisch. Dabei setzte ich mich in den Schatten, den der Apfelbaum in der Nachmittagssonne warf, und betrachtete die ziemlich heruntergekommene Hütte, die noch immer dort stand, wo sie vor dreißig Jahren gestanden hatte. Nur war sie damals ein wenig besser in Schuss gewesen.
In diese Hütte war Vanessa Brown eingezogen, nachdem ihr Mann verschwunden war. Annie, der es im Supermarkt an der Fleischtheke weitergesagt worden war, hatte mir damals sehr amüsiert berichtet, dass die Schauspielerin (so war Mrs. Brown hier stets genannt worden) ihr schönes Haus gegen eine kleine Bruchbude eingetauscht hatte. Und ich erinnerte mich an die unschönen Artikel im Chronicle (unserem lokalen Käseblatt), die Vanessa Brown bewegen sollten, die Grundstücke, die ihr „Big A“ hinterlassen hatte, an die Stadt zu verkaufen.
Damit darauf endlich Wohnhäuser für die Arbeiter des nahegelegenen Chemiewerks gebaut werden konnten.
Doch es hatte nichts genutzt. Die Stadtväter hatten die zuerst freudig begrüßte, dann aber immer weniger wohlgelittene Diva nicht zum Verkauf überreden können. Der Ärger war wohl auch deswegen so groß gewesen, da Shoemaker bereits beim Kauf der Grundstücke der Stadt um Haaresbreite zuvorgekommen war.
Während ich so im Schatten saß, meinen Apfel aß und mich an die alten Geschichten erinnerte, kam mir plötzlich der Gedanke, dass Vanessa Brown wohl noch hier leben musste, denn es war alles unverändert geblieben. Hier waren keine Häuser für die Arbeiter des Chemiewerks gebaut worden, die man schließlich in den Osten der Stadt verfrachtete.
Hier gab es weiterhin nur die kleine Hütte.
Und tatsächlich sah ich für einen Sekundenbruchteil hinter einem der beiden Fenster, zwischen denen die Eingangstür lag, ein Gesicht. Zwar verschwand es sofort wieder, doch hinter dem Vorhang blieb ein Schatten, und ich war mir sicher, dass ich beobachtet wurde.
Nicht ganz grundlos, wie ich mir gleich eingestand, denn ich befand mich auf fremdem Privatbesitz und hatte hier eigentlich nichts verloren.
Trotzdem blieb ich noch eine kleine Weile im wohltuenden Schatten sitzen, ließ mir den Apfel schmecken und genoss die friedhofsähnliche Stille, die hier herrschte. Dabei nahm ich aus dem Augenwinkel die ganze Zeit die Gestalt hinter dem Vorhang wahr, deren Blick ich auf mir spürte.
Ich wusste, es war Vanessa Brown, die mich beobachtete.
Irgendwann stand ich dann doch auf und begab mich auf den Heimweg. Als ich auf die Uhr schaute, erschrak ich, denn es war bereits kurz nach achtzehn Uhr, was bedeutete, dass ich beinahe drei Stunden unter dem Apfelbaum zugebracht hatte. War ich eingeschlafen und hatte es nicht gemerkt? Ich kann es bis heute nicht genau sagen.
Über diese zeitliche Desorientierung war ich während des Heimwegs leicht irritiert, fühlte mich aber dennoch äußerst wohl, denn ich fand, es war etwas Gutes gewesen, dort zu sitzen, im Schatten und in der Stille.
Als ich vor meinem Haus angekommen war und den Schlüsselbund aus der Hosentasche fingern wollte, stießen meine Finger auf etwas Feuchtes, Klebriges.
Ich holte es hervor und stellte mit einigem Erstaunen fest, dass es sich dabei um das Kerngehäuse meines Apfels handelte. Ich musste ihn gedankenverloren in die Hosentasche gesteckt haben, was für mich die einzig plausible Erklärung war. Anstatt die Überreste des Apfels sofort wegzuwerfen, nahm ich sie mit ins Haus. Dort legte ich das inzwischen schon leicht bräunliche Kerngehäuse in eine der Küchenschubladen und hatte es Sekunden später schon wieder vergessen.
Noch in der darauffolgenden Nacht hatte ich den ersten der Träume, die mich von da an eine Zeit lang wie unheimliche Schatten durch die folgenden Nächte begleiteten. Ich zähle nicht zu den Menschen, die sich
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