Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
Teile zerspringen.
Thondaril stand als dunkler Schemen da, den Schwertgriff mit beiden Händen umfasst. Die Teile des Gargoyle lagen auf dem Boden, leuchteten grell auf und fügten sich noch einmal zusammen, aber ehe dieser Vorgang abgeschlossen war, hieb Thondaril noch einmal zu und murmelte dabei eine Formel in alt-nemorischer Sprache.
»Nein!«, rief Gorian so heftig, dass es fast schon einem Kraftschrei gleichkam. Er schnellte hoch. Thondaril hatte das Schwert zum Schlag erhoben, hielt aber inne, als sich Gorian vor ihn warf.
Die abermals zerschlagenen Teile des Gargoyle fügten sich erneut zusammen. Das Wesen, das daraus entstand, wirkte missgestaltet und manche Teile grotesk verzerrt: Ein Flügel war groß, der andere winzig, der Kopf war im Verhältnis zum Restkörper völlig überdimensioniert, während die Beine kleinen Stummeln glichen und sich das Wesen zudem nicht entscheiden konnte, wie viele und an welchen Körperpartien sie ihm hervorwachsen sollten, sodass sich dies dauernd änderte.
» Ar-Don … « , erreichte Gorian ein Gedanke, dessen vollständige Bedeutung ihm unklar blieb. Er hätte nicht einmal zu sagen gewusst, ob darin Feindseligkeit mitschwang oder nicht. Der Gedanke, der ihn erreichte, war einfach nur furchtbar fremdartig und damit so verwirrend wie ein Zeichen einer Schrift, die man nicht beherrschte.
Thondaril stieß ihn zur Seite. Gorian landete auf seinem Bett, während die Klinge des zweifachen Ordensmeisters noch einmal durch die Luft wischte. Aber der Gargoyle war inzwischen durch das Fenster davongestoben, wobei er beide Flügel stark vergrößert hatte. Für einen Moment hoben sich seine dunklen, steinernen Schwingen noch gegen das fahle Licht des Mondes ab. Dann war Ar-Don in der Finsternis des Nachthimmels verschwunden.
»Warum hast du dieser Missgeburt geholfen?«, rief Thondaril zornig, und die ganze Strenge eines Meisters lag in diesen Worten. Er schien äußerst verärgert über Gorians Handlung, die dieser im ersten Moment sich selbst gegenüber kaum zu erklären vermochte. Er spürte einen dicken Kloß im Hals, und als er versuchte, etwas zu sagen, stockten ihm die Worte.
Der zweifache Ordensmeister drehte sich um, warf seine Waffe auf jenes Bett, auf dem er sein Gepäck abgelegt hatte, und setzte sich auf das andere. Sein Gesicht befand sich im Schatten, sodass Gorian es nicht sehen konnte. »Du hast diese Bestie entkommen lassen!«
»Man kann sie ohnehin nicht gänzlich töten«, entgegnete Gorian unsicher.
»Aber man kann mit ihr das tun, was dein Vater schon getan hat: sie bannen. Vor den Einflüsterungen dieser Kreatur hätte dich das zweifellos nicht geschützt, wohl aber vor ihren Zähnen und Krallen!« Er seufzte laut, und der ganze Ärger und die Verständnislosigkeit über Gorians Handlungsweise kamen in diesem einen Laut deutlicher zum Ausdruck, als es tausend Worte vermocht hätten. »Der Gargoyle wollte dich ein weiteres Mal umbringen, Gorian.«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Er war drauf und dran, dir mit seinen Krallen die Kehle aufzureißen. Und vielleicht hätte er dich anschließend sogar zu einem Teil seiner selbst gemacht, so wie es seiner Art entspricht.« Erneut seufzte er tief. »Dass du gestern für die Flüchtlinge Mitleid gezeigt hast, zeigte deine edle Gesinnung. Aber Mitleid mit einer solchen Kreatur ist pure Dummheit, Gorian, gleichgültig, was die Gedanken dieses Wesens dir eingeflüstert haben.«
»Ar-Don hat mir das Leben gerettet.«
»Sprich seinen Namen noch öfter aus, dann wird er nie mehr von deiner Seite weichen!«
»Meister Thondaril, ich glaube nicht, dass Ar-Don gekommen ist, um mich umzubringen.«
»Mir bot sich aber ein deutlich anderes Bild, wenn du neunmalkluger Narr und erfahrener Fremdwesen-Versteher mir ahnungslosem zweifachen Ordensmeister diese kleine Nebenbemerkung gestattest!«
»Ich kann nur sagen, was ich empfinde und …« Er zögerte, ehe er das Wort aussprach: »… wahrnehme!«
»Und was hast du wahrgenommen?«, fragte Thondaril auf eine Weise, die erkennen ließ, dass er sich aus der Beantwortung dieser Frage nicht viel an zusätzlicher Erkenntnis erhoffte.
»Ich … ich kann es nicht erklären. Es tut mir leid, aber in dem Moment, als ich Euch daran hinderte, den Gargoyle völlig zu zertrümmern, hatte ich das Gefühl, das Richtige zu tun. Als wäre ich vollkommen im Einklang mit den metamagischen Schwingungen des Polyversums.«
Thondaril atmete tief und schnaubend durch. »Man sollte die
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