Gorian 2
niemand, der dorthin aufbrach, je zurückkehrte.
»Der Stadtbaum von Caladrania!«, murmelte der Namenlose, und man konnte spüren, wie tief bewegt er war. »Welche Schönheit, welche Harmonie. Selbst die Bauwerke mitulischer Meister wirken dagegen wie Hütten. Ah, welche Freude für mein Auge, dass es diese einzigartige Pracht wieder sehen darf.«
Je näher sie kamen, desto mehr der kunstvollen Einzelheiten waren zu erkennen. Der Stadtbaum von Caladrania wirkte wie eine riesenhafte Skulptur, die ein überragender Künstler aus einem einzigen Stein gehauen hatte.
Oder, so ging es Gorian durch den Kopf, jemand hatte den Stein entsprechend beeinflusst, sodass er sich gegen seine eigentliche Natur verhalten und in derartiger Weise gewachsen war.
Der Namenlose löste sich für einen Moment von dem erhabenen Anblick, der sich ihm bot, und sah Gorian nun doch an.
»Genau das ist geschehen« , bestätigte er dem jungen Ordensschüler und machte ihm damit zum wiederholten Male deutlich, dass er nach Belieben in Gorians Gedanken eindringen konnte. »Der Stein wurde dazu gebracht zu wachsen und diese Gestalt auszuformen, die dem Plan des Baumeisters entsprach.«
»Dann wird man sich an seinen Namen sicher bis heute in Ehren erinnern.«
»Er ist verfemt, und die meisten halten ihn für tot. Tot und vergessen. Aber er ist beides nicht. Er ist nicht tot, weil ich ihm einst das Leben rettete. Und er kann nicht vergessen werden, weil sein Gesicht für die größte Schande meines Volkes steht.« Der Namenlose warf einen kurzen Blick in Richtung des Maskierten, der ebenfalls gefangen schien vom Anblick des steinernen Stadtbaumes von Caladrania. Unter seiner Maske drang ein Seufzen hervor.
Die Greifengondel wurde von den kleineren Himmelsschiffen bis zur Burg auf der dreifachen Astgabelung geleitet. Die größeren Schiffe hingegen landeten auf dem Meer, um anschließend in ihre jeweiligen Hafenbecken einzufahren.
Ar-Don schwebte mit wild flatternden Flügelschlägen über dem Burghof. Es fiel dem Greifengargoyle noch immer schwer, über einem Landepunkt quasi in der Luft zu verharren.
»Hier sollen wir landen«, interpretierte der Namenlose
die Anweisungen der kleineren Himmelsschiffe, dann wandte er sich wieder an Gorian: »Es wäre sehr freundlich von dir, wenn du das der Gargoyle-Kreatur klarmachen würdest.«
»Na los, Ar-Don!«, sandte Gorian einen Gedanken an den Greifengargoyle. »Worauf wartest du?«
Ar-Don stieß einen erschrockenen Laut aus. Was ihn so entsetzte, wusste Gorian nicht, aber irgendetwas ließ den Gargoyle zurückscheuen. Vielleicht war es die Tatsache, dass der Stadtbaum ebenso wie er selbst aus Stein bestand. Möglicherweise traute er sich aber auch eine Landung auf dem von hohen Häusern und spitzen Türmen umgebenen inneren Burghof nicht zu, die ungleich schwieriger war als auf dem vergleichsweise weitläufigen Gondelplatz von Embador.
Unten marschierten bereits reihenweise Caladran-Krieger in schimmernden messingfarbenen Rüstungen auf und postierten sich in einer geordneten Formation.
Schließlich sank Ar-Don Stück für Stück tiefer und setzte die Gondel überraschend sanft ab. »Ar-Don hat dazugelernt« , erreichte Gorian ein Gedanke, der von einem tiefen, zufriedenen Brummen begleitet wurde.
»Es scheint mir, als hätte man uns erwartet«, sagte Gorian.
»Ach wirklich?«, entgegnete der Renegat, der sich bereits zur Tür begab, um sie zu öffnen. Er bediente sich der Caladran-Sprache, aber Gorian hatte seinen Sprechstein inzwischen wieder aktiviert, denn wenn sie mit den Caladran zusammentrafen, wollte er alles mitbekommen, ganz gleich, in welcher Sprache es geäußert wurde.
»Man war über unser Kommen informiert«, sandte er einen sehr intensiven Gedanken an den Namenlosen. »Und Ihr habt es gewusst.«
Der Namenlose machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten, sondern trat zusammen mit dem Maskierten ins Freie. Die messingfarbene Truhe mit den gestohlenen Schriften ließ er dabei hinter sich herschweben.
Gorian und Thondaril folgten, danach verließen Torbas und Sheera die Gondel.
Torbas drehte sich zu Zog Yaal herum. »Du willst doch nicht etwa hierbleiben! Immerhin bist du der Botschafter Gryphlands!«
»Daran möchte ich lieber gar nicht denken«, murmelte Zog Yaal, der sich in seiner Haut sichtlich unwohl fühlte.
Die Formation der Krieger teilte sich, als aus dem Palas der Burg ein Mann und eine Frau traten. Sie gingen Seite an Seite. Der Mann trug eine
Weitere Kostenlose Bücher