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Gottes kleiner Finger - [Thriller]

Gottes kleiner Finger - [Thriller]

Titel: Gottes kleiner Finger - [Thriller] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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nicht sicher, denn Jaimes Kondition wirkte nicht sonderlich gut.
    Zweitausendvierhundert Meter. Noch sechshundert Meter bis zur Spitze. Was war mit den Flugzeugen oder Hubschraubern passiert, die sich ihnen näherten? Wollten die wirklich angreifen, oder war es nur falscher Alarm?
    Dreitausend Meter. Sie waren am Ziel.
    »Da sind wir«, sagte Jaime.
    »Gehen wir«, antwortete Katharine und bemühte sich verzweifelt, ruhig zu klingen.
    Als sie aber auf ihre Hand schaute, bemerkte sie, dass sie zitterte, und sie hatte das Gefühl, das Zittern könnte jeden Moment auch ihre Beine erfassen. Nur ein kleiner Stoß in die falsche Richtung, und sie würde zusammenbrechen und anfangen zu schreien.
    Die Türen des Lifts öffneten sich.
    Katharine machte einen Schritt vorwärts und erstarrte, steif vor Angst.
    Denn alles war noch viel, viel schlimmer, als sie es sich hatte vorstellen können.
    »Shit«, zischte Katharine durch die Zähne.
    Die Fläche direkt vor dem Fahrstuhl war vielleicht zwei Meter breit, aber danach verschmälerte sich der Rand des Turms auf nur sechzig Zentimeter. Das doppelte, einen Meter hohe Geländer, das sich an beiden Kanten des oberen Turmrands hinzog, wirkte sehr schwach und zerbrechlich. Der sechzig Zentimeter breite Betonstreifen wurde schon nach einigen Metern sehr schmal. Im weiteren Verlauf wandelte er sich zunächst zu einem schmalen Band und dann zu einer bloßen, kaum wahrnehmbaren Linie. Auf der einen Seite befand sich grauenhafte, bodenlose Schwärze, und auf der anderen ein ebenso schrecklicher, senkrechter Absturz bis hin zu dem seltsam klein zusammengeschnurrten Glasdach und dem zu einem winzigen Rechteck gewordenen Kontrollraum.
    Um sie herum erstreckte sich nach allen Richtungen über Hunderte von Kilometern die Westliche Wüste Ägyptens. Ein schwindelerregendes Aussichtspanorama, das Grandioseste, was Katharine jemals gesehen hatte. Aber im Augenblick konnte sie es nicht genießen.
    Obwohl Katharine wusste, dass das um den Turm herumführende Geländer bestimmt solide gebaut war, glaubte sie gleichzeitig in einer tiefen, urtümlichen Schicht des Unterbewusstseins, dass es ganz gewiss nachgeben würde, sobald sie es berührte.
    Katharine wich zum Lift zurück. Sie klammerte sich so fest an den Türpfosten des Fahrstuhls, dass die Knöchel weiß wurden. Sie schloss die Augen, um nichts zu sehen.
    Ich kann das nicht.
    »Zwei Hubschrauber«, sagte Jaime.
    Ich hätte es nicht vorschlagen sollen, dachte Katharine. Sie war nicht imstande, sich zu rühren.
    »Sie kommen genau auf uns zu«, fügte Jaime hinzu.
    Katharine bemühte sich, ihre Panik zu überwinden und ihren Augenlidern den Befehl zu erteilen, sich zu öffnen, aber sie gehorchten ihr nicht. Ihre Augen blieben geschlossen. Trotzdem schwindelte es sie, und die Gewissheit, dass sie gleich fallen würde, schnürte ihr die Kehle zu. Die Pillen, die Lauri ihr seinerzeit gegeben hatte, wirkten überhaupt nicht mehr, obwohl sie eine Überdosis eingenommen hatte.
    Es tut mir leid, Razia, aber ich schaffe es nicht bis dorthin! Denn das Luftschiff war fast auf der anderen Seite des Turms, und bis dahin waren es über den schmalen Rand fast dreihundert Meter. Wie würde sie die zurücklegen, wenn sie nicht einmal den Türpfosten des Fahrstuhls loslassen konnte?
    Etwa zehn Kilometer entfernt erscholl das Rattern eines sechsläufigen Maschinengewehrs. Jaime sah, wie Reihen von Leuchtkugelmunition den Hubschraubern vor den Bug zischten, aber die verringerten nicht ihre Geschwindigkeit.
    »Sie ändern ihre Richtung nicht«, stellte Jaime fest.
    Anscheinend meinen sie es ernst, dachte Katharine. Jeder Hubschrauberpilot, der zu seinem Vergnügen unterwegs war und sich verflogen hatte, würde sofort abdrehen, sobald er die nahe an ihm vorbeispritzenden Leuchtkugeln sah.
    Jaime schüttelte den Kopf.
    »Verdammt kaltblütige Typen«, sagte er. »Fliegen mir nichts, dir nichts direkt auf den Kugelhagel des Luftabwehrmaschinengewehrs zu.«
    Vielleicht sind das gar keine zivilen Vehikel, dachte Katharine, vielleicht haben sie keine Angst vor Maschinengewehrfeuer. Vielleicht hatten wir also zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Chance, etwas zu bewirken. Dunkle, trostlose Verzweiflung breitete sich in ihr aus wie schwarzes Sumpfwasser.
    Und da fühlte sie sich plötzlich seltsam unbeschwert und erleichtert, ja geradezu ausgelassen. In unverantwortlicher Weise fröhlich. Sie erinnerte sich gut an dieses Gefühl, denn sie hatte es schon einmal erlebt.

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