Gottes kleiner Finger - [Thriller]
Ostpreußen und die baltischen Länder, ein anderes Hauptziel von Kreuzzügen. Sie bildeten damals das letzte Gebiet Europas, das noch nicht zum Einflussbereich der päpstlichen oder der griechisch-katholischen Kirche gehörte.«
»Das war mir neu«, gab Azhrawi zu.
Die dunkel gekleidete Frau kauerte in einem Winkel des Zeltes, aber ihre Augen beobachteten aufmerksam, was geschah, und Lauri hatte den Eindruck, dass sie auch jedes seiner Worte hörte und verstand.
»Norweger, Dänen und Schweden konzentrierten sich darauf, einen Kreuzzug gegen unser Gebiet zu organisieren«, fuhr Lauri fort. »Zu derselben Zeit, als viele christliche Könige den Islam angriffen, gab der Papst auch den Befehl, die heiligen Haine meines Landes, unsere heiligen Urwälder und den heiligen Baum eines jeden einzelnen Hauses zu zerstören. Ohne das hätten sich die Skandinavier sicherlich in viel größerer Zahl den Armeen angeschlossen, die ins Heilige Land zogen. Du hast doch sicherlich von der Schlacht bei Hattin im Jahr 1187 gehört, in der der Große Saladdin die Armee der Kreuzfahrer vernichtete?«
»Wer hätte nicht davon gehört«, brummte Azhrawi.
»In demselben Jahr errangen die Finnen einen großen Sieg über die Schweden und zerstörten die damalige Hauptstadt des schwedischen Reichs, Sigtuna, sodass die Schweden ihre Hauptstadt an eine neue Stelle verlegen mussten, nach Stockholm.«
Azhrawi strich sich den Bart und betrachtete Lauri schon mit deutlich größerem Interesse als noch einen Augenblick zuvor.
»Damals, als viele europäische Könige sich zur Vernichtung des Islams mit den Mongolen verbündeten, führten wir Krieg gegen die russischen Fürstentümer, die damals ein Teil des großen Imperiums der Mongolen waren«, fuhr Lauri fort.
Lauri erzählte Azhrawi jedoch nicht, dass Schweden-Finnland später auch eine Art Söldner des ottomanischen Reichs gewesen war und dass es zweimal, in den Jahren 1741 und 1788, einen Krieg gegen Russland begonnen hatte, um in den Genuss der beträchtlichen wirtschaftlichen Entschädigung zu gelangen, die die Ottomanen zahlten. Lauri ließ das unerwähnt, weil er wusste, dass der Aufstieg der Ottomanen für die Araber eine noch größere Katastrophe gewesen war als für Europa.
»Du weißt viel mehr als die meisten Europäer, die, entschuldige, wenn ich das so sage, über derartige Dinge meistens nicht viel wissen«, bemerkte Azhrawi. »Aber warte mal, ich bitte Amina, uns noch Pfefferminztee zu bringen.«
Azhrawi entfernte sich für einen Moment. Lauris Blick wanderte zu der schwarz gekleideten Frau, die schweigend neben der Zeltwand saß. Die Frau wich seinem Blick nicht aus, wandte ihm aber auch nicht das Gesicht zu. Lauri hätte gern gewusst, wer sie war.
Die Kreuzzüge, dachte Lauri. Azhrawi hatte die Unterhaltung damit eröffnet, dass er die europäische Union als eine Union von Kreuzfahrern bezeichnete! Seit dem letzten Kreuzzug waren schon über siebenhundert Jahre vergangen, aber die Sache war weiterhin aktuell. Große Fehler hinterlassen manchmal wirklich große Spuren in der Geschichte. Eine besondere Ironie lag darin, dass die Kreuzzüge ursprünglich eine Art Krieg von Papst Urban gegen den Terrorismus gewesen waren. Offiziell waren sie im Wesentlichen mit einem erfundenen Bericht begründet worden, in dem Angriffe von islamischen Straßenräubern gegen christliche Pilger aufgelistet waren.
Aber was hatten die Kreuzzüge nicht alles für Folgen gehabt! Schon der erste Kreuzzug hatte die Tradition gebrochen, die auf den Lehren des großen afrikanischen Kirchenvaters Augustinus gründete, achthundert Jahre lang in Kraft war und den Juden Respekt und Toleranz entgegenbrachte. Augustinus’ Lehren waren durch die viel schwärzere Tradition der Pogrome ersetzt worden, die gut achthundert Jahre später in Auschwitz, Treblinka und Dachau kulminierte. Warum sollten wir bis ins Heilige Land marschieren, um Heiden zu töten, wenn die auch viel näher zu finden sind?
Als die Europäer begonnen hatten, ihre eigene Identität zu stärken, indem sie die Andersartigkeit und Fremdheit der Muslime betonten, dauerte es nicht lange, bis dieselbe Welle der Intoleranz wie ein sich nach allen Richtungen ungehemmt ausbreitender Steppenbrand auch die europäischen Juden erfasste. Hundert Jahre später durften auch die zur griechisch-katholischen Kirche gehörenden Christen und die Ketzer im französischen Languedoc die Segnungen derselben Intoleranz in Reinkultur genießen. Dann hatte sich
Weitere Kostenlose Bücher