Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes kleiner Finger - [Thriller]

Gottes kleiner Finger - [Thriller]

Titel: Gottes kleiner Finger - [Thriller] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
Vom Netzwerk:
erstaunlich hohe Türme aus gebrannten oder in der Sonne getrockneten Ziegeln. Bei manchen war die obere Schicht mit schützendem Schlamm oder Mörtel bedeckt. In den Öffnungen und Ritzen der Wände nisteten Tauben, und ihr Gurren erschallte aus allen Richtungen. Den Boden bedeckte eine dicke Schicht Taubenkot. Seitlich an den Türmen befanden sich große, trichterförmige Öffnungen, die die Windgeschwindigkeit verstärkten. Drinnen trieben spiralförmige Flügel aus Baumwollstoff ein Wasserrad oder Mühlsteine an.
    »Als die Idee der Windmühle nach Europa gelangte, verlagerten die Europäer ihre Achse in die Waagerechte«, erklärte Lauri. »Danach waren die Windmühlen mit senkrechter Achse jahrhundertelang als islamische und die mit waagerechter Achse als europäische Windmühlen bekannt.«
    »Du willst mir also sagen, dass jenes Monstrum, das ihr in der Nähe der heiligen Oase Siwa gebaut habt, eine Art islamische Windmühle sei?«
    »Ihr Prinzip ist genau dasselbe«, erklärte Lauri. »Sie ist nur viel größer. Und auch sie soll zur Bewässerung des Landes dienen.«
    »Das ist zweifellos ein interessanter Gesichtspunkt«, murmelte Azhrawi. »Bemerkenswert. Sehr, sehr bemerkenswert. Aber ... möchtet ihr vielleicht noch Tee?«
    »Nein, danke!«, sagte Lauri. »Es passt nichts mehr in mich hinein, der ganze Raum ist schon ausgefüllt!«
    Auch Abu Hassan wirkte leicht entsetzt.
    »Schade«, lachte Azhrawi.
    Dann wurde er plötzlich ernst.
    »Aber weißt du, was ich in Wirklichkeit denke?«
    »Das möchte ich sehr gern hören«, antwortete Lauri.
    »Vielleicht soll es so sein, dass wir Menschen, alle sechs Milliarden zusammengenommen, eine Art Gottes Kleiner Finger sind«, sagte Azhrawi. »Sein Werkzeug in dieser Welt.«
    Wieder hob sich der Stoff, der die Zeltöffnung bedeckte, und Lauri sah ein wenig von dem hellen Sonnenlicht, als die Frau in Schwarz zurückkehrte.
    Sie lehnte das Gewehr gegen den Zeltstoff und setzte sich wieder an ihren Platz.
    »Leider gibt es Menschen, sowohl hier in unserem Land als auch dort in euren Ländern, die wollen, dass die Menschen nicht Gottes, sondern Satans kleiner Finger sind«, sagte Azhrawi. »Oder irgendein anderer von Satans Fingern, woher sollen wir wissen, wie viele Finger Satan hat. Vielleicht sind es Tausende.«
    Lauri wartete ruhig ab, dass Azhrawi seinen Gedanken zu Ende führte.
    »Ich habe viele Male darüber nachgedacht, warum Gott die Wahrheit nur einigen von uns, durch Vermittlung Mohammeds, offenbart und alle anderen den Täuschungen des Satans überlassen haben sollte«, sinnierte Azhrawi laut. »Warum hätte er den größten Teil der Menschen absichtlich dem Verderben anheimgeben sollen? So einer ist unser Gott nicht, er ist gnädig und gut. Und wenn nun die Offenbarungen der verschiedenen Völker, die sie zu verschiedenen Zeiten bekommen haben, alle gleichzeitig wahr sind? Wenn Gott nun absichtlich allen nur Bruchstückchen der großen Wahrheit offenbart hat? Damit wir voneinander lernen, um das Puzzle wieder zusammensetzen zu können?«
    Lauri stellte fest, dass Scheich Azhrawi ihm immer besser gefiel. Ihm wurde klar, warum Abu Hassan es für so wichtig gehalten hatte, dass sie ihre Runde gerade im Zelt von Azhrawi begannen.
    »Der Islam ist sicherlich die letzte, höchste und edelste Form der göttlichen Offenbarung«, sagte Azhrawi. »Kaum jemand, der sich auskennt, kann darüber anderer Meinung sein. Aber vielleicht habt auch ihr Christen uns etwas zu sagen. Vielleicht ist eure Auffassung von Gnade und Vergebung richtig. Und vielleicht ist es so, dass die Menschen keine Gewalt gegeneinander anwenden sollten, so wie Jesus es gepredigt hat.«
    »Das könnte durchaus richtig sein«, bemerkte Lauri.
    »Unsere pakistanischen Freunde ... wenn sie über die Inder sprechen, nennen sie sie heute immer die Hindubastarde. The Hindu Bastards. Die Inder sind heute immer Hindubastarde. Niemals etwas anderes. Ich kann auch das verstehen. Das, was die extremistischen Hindus in Gujarat getan haben ... Aber die meisten Hindus haben nicht gebilligt, was damals geschah, neunundneunzig Prozent hielten es für ein schreckliches Verbrechen. Und wenn wir nun auch von den Hindus und von den Buddhisten etwas lernen sollten? Alle großen Gelehrten des Reichs der Mogule haben das geglaubt!«
    Azhrawi lachte.
    »Wenn Allah manche Seelen viele Male auf die Erde schicken will, warum sollte er das nicht tun können? Wer sind wir denn, dass wir sagen könnten, wozu Allah fähig ist

Weitere Kostenlose Bücher