Gottes Tochter
ist nichts bewiesen.«
»So wie damals.«
»Hör auf!«, sagte er. »Mir reicht, dass der Westkollege bei mir reinpfuscht.«
»Ich pfusch doch nicht bei dir rein!«
»Entschuldige, Ingrid. Ich bin müde.«
»Was ist das für ein Typ? Ist er wenigstens höflich?«
»Er hat ziemlich lange Haare, ist unrasiert und übergewichtig, ungefähr Mitte vierzig.«
»Dass die im Westen bei der Polizei so rumlaufen dürfen, mit langen Haaren und unrasiert.«
»Hauptsache, er hält sich an die Regeln«, sagte Halberstett. Morgen war der erste Tag seit fünf Wochen, an dem er ausschlafen konnte.
17
D ie gleiche Situation wie damals: Sie auf dem Stuhl, der Polizist an der Tür, steht da wie hereingebeten und schaut auf sie herunter, genau wie damals seine Kollegen. Und es hatte so kommen müssen, im Stillen hatte sie damit gerechnet. Beim ersten Blick auf das Mädchen war ihr klar gewesen, in spätestens einer Woche würde jemand auftauchen und so lange nachfragen, bis er eine Antwort bekam, die ihn überzeugte. Und sie wusste wie damals, ihr Sohn würde diese Antwort nicht geben können oder wollen, und dann musste sie für ihn das Wort ergreifen. Doch niemand würde ihr glauben, weil sie als Mutter auf der Seite ihres Sohnes stand, egal, wie bedrohlich die Situation war und mit welchen Konsequenzen sie bei einer Falschaussage zu rechnen hatte.
Natürlich stand sie auf Ricos Seite, bloß: Was war seine Seite? Welches Ziel verfolgte er? Hatte er einen Plan? War er darauf aus, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen bis zum bitteren Schluss? Und wenn er log, welche Wahrheit gab es dann wirklich?
Die gleiche Situation wie damals: Die Polizei fragte, und sie antwortete und achtete darauf, sich nicht zu widersprechen. Bloß keine Widersprüche! Die Versuche der Polizisten, die Aussagen ihres Sohnes gegen ihre auszuspielen, hatte sie rasch durchschaut, und sie war stur bei dem geblieben, was sie bereits erklärt hatte.
Und heute? Was war auf dem Schiff wirklich passiert? Was hatte Julika wirklich getan? Was hatte Rico wirklich beobachtet? Natürlich schützte er das Mädchen, deswegen hatte er sie von hier weggebracht. Wohin? Wo war sie seit einer Woche? Alles, was er verraten hatte, war, sie sei noch in der Stadt und er werde ihr, seiner Mutter, nicht mehr sagen, damit sie bei der Polizei nicht zu lügen brauchte. Er kapierte einfach nicht, dass die Polizei ihr nicht glauben würde. Henry Halberstett glaubte ihr nicht, und der Polizist aus dem Westen, der seit einer halben Stunde in ihrer Küchentür stand, glaubte ihr genauso wenig. Nach dem Frühstück war Rico aufgestanden und gegangen. Natürlich hatte er gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, er wisse genau, was zu tun sei. Manchmal schreit seine Naivität zum Himmel, hatte sie gedacht und den Mund gehalten. Schon zum dritten Mal innerhalb einer Woche war er nachts nicht nach Hause gekommen. Hatte sie das Recht ihn zu fragen, weshalb? Natürlich! Also hatte sie ihn gefragt. Und er hatte geantwortet, sie solle sich keine Sorgen machen. Und nach der vierten Nacht hatte sie ihn noch einmal gefragt, und er hatte erwidert, er habe Julika nicht allein lassen wollen. Marlen machte ihm Vorwürfe, weil er keine Anzeige erstattete, und auch wegen seiner Aussagen gegenüber den Polizisten, die ihn im Krankenhaus besucht hatten, nachdem eine eifrige Krankenschwester in der Blücherstraße angerufen hatte. Er sei überfallen worden, hatte er gesagt, er habe aber kein Interesse an einer Strafverfolgung. Sehr überzeugend. Die Polizisten fertigten ein Protokoll an, kurz darauf meldete sich Henry Halberstett. Rico blieb bei seiner Entscheidung, und Marlen erfuhr von ihm nicht mehr als der Arzt und der Kommissar. Und Julika hatte kein Wort gesagt. Marlen kam es vor, als würde sie sich in ein kleines Mädchen zurückverwandeln, das die Sprache verloren hatte und in einer Phantasiewelt herumspazierte, unerreichbar für die Menschen. Bei ihr war sich Marlen sicher, dass sie genau wusste, was passiert war und wer Rico so zugerichtet hatte. Julika sagte nichts, weil Rico es so wollte. Warum verhielt er sich so? Hatte er Angst? Wurde er bedroht? Warum, fragte sich Marlen wieder und wieder, hat er das Vertrauen in seine Mutter verloren, warum vertraute er Julika mehr als ihr? Warum behandelte er seine Mutter wie eine Fremde? Sie kam sich ausgeschlossen und gedemütigt vor. Und nun auch noch von einem Mann unter Druck gesetzt, dessen Namen sie vergessen hatte.
»Ich höre Ihnen nur zu«,
Weitere Kostenlose Bücher