Gottes Werk und Teufels Beitrag
Baumrinde kann dir nichts antun.«
»Manche von den Bäumen waren früher einmal Menschen«, erzählte der kleine Junge ihr. »Sie waren früher einmal Waisen.«
»Nein, nein, Schatz. Nein, waren sie nicht«, sagte Schwester Angela. Sie ließ ihn auf ihrem Schoß sitzen.
Es war zwar früh am Morgen, aber sie hörte schon die Schreibmaschine klappern; Dr. Larch hatte noch mehr zu sagen. Der kleine Junge auf ihrem Schoß zitterte; er horchte ebenfalls auf die Schreibmaschine.
»Hörst du das?« flüsterte er Schwester Angela zu.
»Die Schreibmaschine?« fragte sie.
»Die was?« sagte er.
»Das ist eine Schreibmaschine«, sagte sie, doch er schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist die Baumrinde«, sagte er. »Sie kommt herein in der Nacht, und am Morgen.«
Trotz ihrer Rückenschmerzen trug Schwester Angela den Jungen den ganzen Weg bis zu ihrem Büro; sie zeigte ihm das Geräusch, das er gehört hatte – Dr. Larch an der Schreibmaschine –, aber sie fragte sich, ob Larch, wie er dasaß und schrieb, nicht noch viel erschreckender war für den kleinen Jungen als seine eingebildeten Baummenschen.
»Siehst du?« fragte Schwester Angela den Jungen. »Es ist eine Schreibmaschine, und das ist Dr. Larch.« Dr. Larch blickte die beiden mißmutig an; gereizt durch die Störung, brummelte er etwas Unverständliches. »Du kennst doch Dr. Larch, oder?« fragte Schwester Angela den kleinen Jungen.
Doch das Kind zweifelte nicht. Es warf seine Ärmchen um Schwester Angelas Hals; dann ließ es zögernd los und zeigte mit der einen Hand auf die Schreibmaschine und auf Dr. Larch. »Waldwesen«, flüsterte das Kind. Diesmal war der Brief in Larchs höchst pädagogischem Ton gehalten; er schrieb an Homer Wells; er sagte Homer Wells alles. Er bettelte nicht. Er stellte die Sache nicht so dar, als hätte Fuzzy Stone wichtigere Aufgaben zu übernehmen als Homers gegenwärtige; er wies nicht darauf hin, daß Homer Wells und Fuzzy Stone beide Hochstapler waren. Larch sagte, er sei überzeugt, daß Angel das Opfer seines Vaters akzeptieren werde – »Er wird Dein Bedürfnis achten, Dich nützlich zu machen«, so drückte Wilbur Larch es aus.
»Junge Menschen bewundern es, wenn jemand Risiken eingeht. Sie finden es heroisch«, argumentierte Larch. »Wäre die Abtreibung legal, dann könntest Du Dich weigern – tatsächlich, Du mit Deinen Ansichten solltest Dich weigern. Aber solange sie gegen das Gesetz verstößt, wie kannst Du Dich da weigern? Wie kannst Du Dir eine Entscheidung darüber anmaßen, wo es so viele Frauen gibt, die nicht frei entscheiden können? Die Frauen haben keine Wahl. Ich weiß, daß Du es nicht für richtig hältst, aber wie kannst Du – ausgerechnet Du mit Deinen Kenntnissen –, wie kannst du dir die freiheit herausnehmen, zu entscheiden, dass du menschen nicht hilfst, die nicht so frei sind, dass sie anderswo hilfe bekommen? Du mußt helfen, weil Du es kannst. Denke einmal darüber nach, wer ihnen helfen soll, wenn Du Dich weigerst.« Wilbur Larch war so müde, daß, hätte er sich erlaubt einzuschlafen, Baumrinde über seine Augen gewachsen wäre.
»Du steckst in einer Zwickmühle«, schrieb Dr. Larch an Homer. »Und in diese Zwickmühle habe nicht ich Dich gebracht – das ist nicht meine Art. Weil die Abtreibung illegal ist, haben Frauen, die sie brauchen und wollen, keine andere Wahl, und Du – weil Du sie auszuführen weißt – hast ebenfalls keine Wahl. Was hier verletzt wird, ist Deine Entscheidungsfreiheit und die Entscheidungsfreiheit jeder Frau. Wäre die Abtreibung legal, dann hätten Frauen die Wahl – und Du auch. Du könntest Dir die Freiheit herausnehmen, es nicht zu tun, weil jemand anders es tun würde. Doch so, wie es nun einmal steht, steckst Du in der Zwickmühle. Genau wie die Frauen. Die Frauen sind Opfer und Du ebenfalls.
Du bist mein Kunstwerk«, sagte Wilbur Larch zu Homer Wells. »Alles andere war nur Arbeit. Ich weiß nicht, ob Du ein Kunstwerk in Dir trägst«, schloß Larch seinen Brief an Homer, »aber ich weiß, was Deine Aufgabe ist, und das weißt Du genauso. Du bist der Arzt.«
Dieser Brief ging mit derselben Post hinaus wie die Briefe und die »Beweise« für den Treuhänderausschuß; Schwester Caroline trug nicht nur die Briefe auf den Bahnhof, sie sah auch zu, wie die Post auf den Zug gebracht wurde. Als der Zug abfuhr, beobachtete sie eine besonders verloren wirkende Frau, die auf der falschen Seite der Gleise aus dem Zug gestiegen war; der Bahnhofsvorsteher guckte
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