Gottes Werk und Teufels Beitrag
College absolvieren durfte – falls sie wollte –, bevor sie heirateten. Aber bei Olive Worthingtons Sinn für Sorgen durfte man wohl annehmen, daß Olive die möglichen Ursachen für eine Änderung solcher Pläne vorausgesehen hätte. Immerhin schrieb man das Jahr 194–; es gab Krieg in Europa; viele glaubten, daß es nicht lange dauern werde, bis mehr als Europa darin verwickelt sein würde. Olive jedoch hegte den Wunsch einer Mutter, den Krieg aus ihrem Denken fernzuhalten.
Wilbur Larch hatte den Krieg in Europa sehr wohl im Sinn; er war im vorigen Krieg gewesen, und er sah voraus, daß, falls es wieder Krieg geben sollte, Homer gerade im richtigen Alter sein würde, um hingehen zu müssen. Nachdem dies aber sowieso das falsche Alter gewesen wäre, hatte der gute Doktor bereits einige Mühe auf sich genommen, um dafür zu sorgen, daß Homer Wells nicht in einen Krieg ziehen müßte, falls es ihn denn geben sollte.
Immerhin war Larch der Historiker von St. Cloud’s; er schrieb die einzigen Aufzeichnungen, die dort geführt wurden; meist schrieb er die nicht-ganz-einfache Geschichte des Hauses, aber er hatte sich auch schon in der Fiktion versucht. Im Fall Fuzzy Stones zum Beispiel – und in anderen, sehr seltenen Fällen von Waisen, die unter seiner Obhut verstorben waren – hatte Wilbur Larch keinen Gefallen am wirklichen Schluß der Geschichte gefunden, es hatte ihm widerstrebt, den wirklichen Ausgang dieser kleinen, abgekürzten Lebensläufe aufzuzeichnen. War es nicht nur gerecht, wenn Larch sich gewisse Freiheiten herausnahm – wenn er sich manchmal ein Happy-End gönnte?
Für die wenigen, die gestorben waren, erfand Wilbur Larch ein längeres Leben. Die Geschichte F. Stones zum Beispiel las sich wie die Geschichte eines Lebens, das sich Wilbur Larch für Homer Wells wünschte. Anschließend an Fuzzys geglückte Adoption (alle Mitglieder der Adoptivfamilie wurden gewissenhaft geschildert) und an die erfolgreiche Behandlung und Heilung von Fuzzys Atemschwierigkeiten sollte der junge Mann seine Ausbildung an keinem anderen College als Bowdoin (Wilbur Larchs eigener Alma mater) fortsetzen und an der Harvard Medical School Medizin studieren – er sollte sogar in Larchs Fußstapfen treten, als Assistent am Massachusetts General und an der Bostoner Entbindungsklinik. Larch beabsichtigte, aus Fuzzy Stone einen aufopfernden und geschickten Geburtshelfer zu machen; die fiktive Geschichte des Waisenjungen war so sorgfältig ausgearbeitet wie alles, was Larch tat – von seiner Äthervorliebe einmal abgesehen, und Larch war besonders zufrieden, festzustellen, daß manche seiner erfundenen Geschichten überzeugender waren als das, was die Wirklichkeit zustande brachte.
Snowy Meadows zum Beispiel sollte dereinst von einer Familie in Bangor adoptiert werden, die den Namen Marsh trug. Wer hätte geglaubt, daß Wiesen (meadows) einmal zu einem Moor (marsh) versumpfen würden? Wilbur Larch war zufrieden mit sich, weil er sich bessere Geschichten ausdachte. Die Marshs waren im Möbelgeschäft, und Snowy (der phantasielos in Robert umbenannt wurde) sollte nur kurz die University of Maine besuchen, bevor er irgendeine Dorfschönheit heiraten und als Handelsvertreter ins Möbelgeschäft der Familie Marsh eintreten sollte.
»Es ist fürs Leben«, schrieb Snowy an Dr. Larch – über das Mädchen, das ihn bewog, die Hochschule zu verlassen. »Und ich liebe das Möbelgeschäft!«
Wann immer Snowy Meadows alias Robert Marsh an Dr. Larch schrieb, sollte er stets fragen: »Was ist eigentlich aus Homer Wells geworden?« Als nächstes, dachte Larch, wird Snowy ein Ehemaligen-Treffen vorschlagen! Larch nörgelte tagelang vor sich hin und überlegte, was er Snowy Meadows über Homer sagen sollte; am liebsten hätte er mit Homers perfekter Behandlung der Eklampsiepatientin geprahlt, aber Larch war sich bewußt, daß sein Studienprogramm für Homer Wells – und die Sache mit dem Werk des Herrn und dem Beitrag des Teufels in St. Cloud’s – nicht jedermanns Beifall finden würde.
»Homer ist immer noch bei uns«, sollte Larch zweideutig an Snowy schreiben. Snowy ist ein hinterhältiger Kerl, folgerte Larch – denn Snowy Meadows versäumte es nie, sich in seinen Briefen nach Fuzzy Stone zu erkundigen.
»Was ist inzwischen aus Fuzzy geworden?« fragte Snowy jedesmal, und Wilbur Larch überprüfte dann sorgfältig die Geschichte, die er für Fuzzy geschrieben hatte – nur um Snowy auf dem laufenden zu halten.
Snowys Frage
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