Gottspieler
Intensivstation hatte es eine regelrechte Krise gegeben; bei fast allen Patienten waren gleichzeitig Komplikationen aufgetreten. Keiner von ihnen konnte verlegt werden, so daß die gesamte Herzchirurgie praktisch zum Erliegen kam, weil niemand mehr operiert werden konnte. Jeden Tag bei der Visite ging Oberarzt Barney Kaufman von Bett zu Bett und sah nach, ob einer soweit war, daß er verlegt werden konnte, aber umsonst. Und jeden Tag kamen sie als letztes zu einem Patienten, dem Barney den Spitznamen Frank Gork gegeben hatte. Während der Operation an einer verkalkten Herzklappe hatte sich ein ganzer Schauer von Embolien gelöst, und Frank Gork, vormals Frank Segelmann, war gehirntot aus dem OP gefahren worden. Er lag bereits über einen Monat auf der Intensivstation. Die Tatsache, daß er immer noch lebte, beziehungsweise, daß sein Herz immer noch schlug und seine Nieren immer noch Urin absonderten, verdankte er allein den Schwestern und Pflegern, die ihn betreuten.
Eines Nachmittags blickte Barney Kaufman auf Frank Gork hinunter und sagte: »Mr. Gork, wir alle lieben Sie innig, aber könnten Sie nicht vielleicht in Betracht ziehen, dieses Hotel zu verlassen? Ich weiß, es ist nicht das Essen, das Sie bei uns hält.«
Alle hatten gekichert, mit Ausnahme des jungen Assistenzarztes, der noch lange auf Frank Gorks Gesicht starrte. Später am Abend war er mit einer mit Kaliumchlorid gefüllten Spritze auf der Intensivstation erschienen, und innerhalb weniger Sekunden verwandelte sich Frank Gorks Herzstromkurve mit ihrem regelmäßigen Piepsen in einen flachen grünen Strich. Der junge Praktikant hatte selbst den Notruf veranlaßt, aber das Team war bei seinen Wiederbelebungsversuchen nur halbherzig bei der Sache gewesen.
Hinterher war jeder froh und glücklich, von den Pflegern bis zum diensthabenden Chirurgen. Der junge Praktikant mußte sich zusammenreißen, damit er sich nicht mit seiner Tat brüstete. Es war so einfach gewesen, so sauber, praktisch und endgültig.
Jetzt mußte er zugeben, daß die Zeiten sich geändert hatten. Die Euphorie darüber, daß er tat, was getan werden mußte, und daß es nur wenige gab, die den Mut dazu gehabt hätten, wollte sich nicht einstellen. Und doch hatte Robert Seibert sterben müssen. Es war sein eigener Fehler gewesen, sich solchermaßen auf seine sogenannten PPT-Fälle zu stürzen.
Nachdem er aus dem Badezimmer zurückgekehrt war, durchsuchte der Mann rasch das Zimmer nach irgendwelchen Unterlagen, die mit der Studie zu tun haben konnten. Als er keine finden konnte, eilte er zur Tür und öffnete sie einen Spalt.
Eine der Nachtschwestern näherte sich auf dem Gang, ein Metalltablett in den Händen. Einen entsetzlichen Moment lang fürchtete der Mann, sie könnte vielleicht nach Robert sehen wollen. Aber sie verschwand in einem anderen Zimmer, und der Korridor war leer.
Mit klopfendem Herzen schlüpfte der Mann aus Roberts Zimmer. Es wäre nicht gut, wenn man ihn auf dem Stockwerk sähe. Als Praktikant hatte er allen Grund gehabt, zu jeder Tages- und Nachtzeit auf dem Gang, in den Patientenzimmern oder auf der Intensivstation gesehen zu werden, aber inzwischen lagen die Dinge anders. Er mußte vorsichtiger sein.
Als er die Sicherheit des Treppenhauses erreicht hatte, wurde er von Panik überwältigt. Er stürzte drei Stockwerke hinunter, ohne daß er einmal stehenblieb, um nach Luft zu schnappen, und erst nach dem zwölften Stock verlangsamte er sein Tempo. Auf dem Treppenabsatz vom fünften Stock hielt er inne, lehnte sich mit dem Rücken gegen die nackte Betonwand und wartete, bis seine pumpende Brust sich wieder beruhigt hatte. Er mußte sich zusammenreißen.
Er holte tief Luft und öffnete die Tür zum OP-Trakt. Jetzt war er in Sicherheit, aber seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Unablässig grübelte er über die PPT-Daten nach. Höchstwahrscheinlich hatte Robert noch weitere Gefahrenquellen in seinem Büro, besprochene Tonbänder und ähnliches. Mit einem Seufzer beschloß der Mann, daß er der Pathologie am besten jetzt gleich einen Besuch abstattete, bevor Roberts Tod bekannt wurde. Danach gab es dann nur noch ein Problem – Cassi. Er fragte sich, wieviel Robert ihr wohl erzählt haben mochte.
11
Cassi erwachte ganz plötzlich und starrte in das lächelnde Gesicht einer Labortechnikerin, die zum drittenmal ihren Namen gerufen hatte. »Sie haben aber tief geschlafen«, sagte die Technikerin, als Cassis Augen sich endlich öffneten.
Cassi
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