Gottspieler
Stelle anzunehmen, aber er wolle darüber nachdenken. Im Augenblick hätte er sich darum zu sorgen, daß er Patienten vertrösten und hinhalten müsse, die möglicherweise die Wartezeit bis zur Operation nicht überleben würden. Patienten, die eine neunundneunzigprozentige Chance hätten, ein langes, produktives Leben zu führen, wenn ihre OP-Zeit nicht irgendeinem skierotischen Volltrottel geopfert würde, mit dem das Lehrpersonal zu experimentieren wünschte.
Nach diesem Einwurf wurde die Konferenz vertagt.
Thomas drängte zum Podium, doch George kam ihm zuvor.
Es gelang Thomas nur mit Mühe, seine Selbstbeherrschung zu bewahren.
»Kann ich Sie eine Sekunde sprechen, Dr. Ballantine?« fragte er, ohne darauf zu achten, daß George gerade etwas sagen wollte.
»Natürlich«, antwortete Ballantine.
»Allein«, sagte Thomas knapp.
»Ich wollte sowieso los«, sagte George liebenswürdig. »Ich bin in meinem Büro, falls Sie mich brauchen.«
Für Thomas entsprach Ballantine genau der Hollywoodvorstellung von einem Arzt mit seinem vollen weißen Haar, das er aus der Stirn zurückgekämmt trug, und dem zerfurchten, aber sonnengebräunten, angenehmen Gesicht. Das einzige, was den Gesamteindruck ein wenig schmälerte, waren die Ohren. Sie waren schlicht und einfach riesig. Im Augenblick hatte Thomas große Lust, sie zu packen und Ballantines Kopf daran hin und her zu schütteln.
»Hören Sie, Thomas«, sagte Ballantine schnell, »ich möchte nicht, daß Sie sich wegen dieser Geschichte gleich verfolgt vorkommen. Sie müssen wissen, daß die Universität einigen Druck auf mich ausgeübt hat, damit mehr OP-Zeit in den Dienst des Lehrauftrags gestellt wird, speziell nach diesem Artikel in Time. Diese Art von Publizität wirkt wahre Wunder für das Subventionsprogramm. Und wie George sagte, haben Sie einen unverhältnismäßig hohen Stundenanteil gehabt. Es tut mir leid, daß Sie es auf diese Weise erfahren mußten, aber …«
»Aber was?« fragte Thomas.
»Sie haben eine Privatpraxis. Wenn Sie sich einverstanden erklären, ganz für uns zu arbeiten, könnte ich Ihnen eine Professur garantieren und …«
»Mein Titel als Assistant Clinical-Professor reicht mir vollauf«, sagte Thomas. Plötzlich begriff er: Der neue Zeitplan war ein weiterer Versuch, ihn zur Aufgabe seiner Privatpraxis zu zwingen.
»Thomas, Sie wissen doch, daß mein Nachfolger als Direktor der Herzchirurgie in jedem Fall ganztags im Dienst der Klinik stehen muß.«
»Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich mit dieser Kürzung meiner OP-Zeit abzufinden«, sagte Thomas, ohne auf Ballantines Andeutung einzugehen.
»Ich fürchte, Thomas. Es sei denn, wir erhalten einen weiteren Operationssaal, aber wie Sie wissen, brauchen solche Dinge Zeit.«
Abrupt wandte Thomas sich zum Gehen.
»Sie überlegen es sich doch noch einmal, nicht wahr?« rief Ballantine ihm nach.
»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, antwortete Thomas und wußte, daß er log.
Er verließ den Hörsaal und ging die Treppe hinunter. Auf dem ersten Absatz blieb er stehen. Er griff nach dem Geländer, schloß die Augen und gestattete seinem Körper vor schierer Wut zu zittern. Aber nur einen Moment lang, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Schließlich fand er sich nicht zum erstenmal im Kampf mit der bornierten Bürokratie. Er hatte schon vermutet, daß Ballantine und George etwas im Schilde führten, und jetzt wußte er, was. Aber er fragte sich, ob das alles war, denn er wurde das Gefühl nicht los, daß da noch mehr vorging, worüber er Bescheid wissen sollte.
3
Cassi empfand immer eine gewisse Besorgnis, wenn sie den Teststreifen in ihren Urin tauchte. Bestand doch jederzeit die Möglichkeit, daß die Farbe des Streifens sich veränderte, weil sie wieder Zucker verlor. Nicht daß etwas Zucker im Urin gleich die Welt gewesen wäre, zumal wenn es nur hin und wieder passierte. Ihre Besorgnis hatte mehr gefühlsmäßige Ursachen; wenn sie Zucker ausschied, war irgend etwas nicht in Ordnung. Der psychologische Aspekt spielte eine große Rolle.
Die Toilettenbeleuchtung war so schlecht, daß Cassi die Tür ihrer Kabine öffnen mußte, um den Teststreifen genau in Augenschein nehmen zu können. Die Farbe hatte sich nicht verändert. Nachdem sie letzte Nacht kaum zum Schlafen gekommen war und sich erst am Nachmittag ein Fruchtjoghurt gegönnt hatte, wäre sie über etwas Zucker auf dem Streifen nicht erstaunt gewesen. Sie freute sich, daß die Insulinmenge,
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