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Gottspieler

Gottspieler

Titel: Gottspieler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Cook
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sei.
    Cassi schrie, daß sie sich sehr wohl als normal empfinde, worauf ihre Mutter sie an den Schultern packte und erbarmungslos sagte: »Cassi, du hast ein chronisches Leiden, das dich bis an dein Lebensende begleiten wird, und je eher du diese Tatsache akzeptierst, desto besser für dich.«
    Cassi flüchtete in ihr Zimmer und verschloß die Tür. Bis zum nächsten Tag weigerte sie sich, mit irgend jemand zu sprechen. Als sie ihr Schweigen endlich brach, geschah es nur, um ihre Mutter darüber zu informieren, daß sie Tim angerufen und ihm erklärt hätte, warum sie seine Einladung zum Ball nicht annehmen könne, nämlich weil sie krank sei. Sie sagte, Tim sei ganz überrascht gewesen, weil er nicht gewußt hätte, daß sie Diabetikerin sei.
    Und jetzt stand sie in der Toilette des Boston Memorial, starrte ihr Spiegelbild an und kehrte langsam in die Gegenwart zurück. Sie fragte sich, bis zu welchem Grad sie ihr Leiden geistig wirklich verarbeitet hatte. Oh, natürlich wußte sie inzwischen eine Menge darüber, kannte Zahlen und Zitate. Aber war dieses Wissen das Opfer wert gewesen? Die Antwort darauf fiel ihr nicht leicht; vielleicht würde es nie eine geben.
    Sie seufzte. Ihr Haar war ein einziges Durcheinander. Sie nahm die Kämme und Nadeln heraus und schüttelte den Kopf. Dann strich sie es mit geübten Händen zurück und steckte es wieder hoch. Als sie die Toilette verließ, fühlte sie sich etwas frischer.
    Die wenigen Dinge, die sie für die Übernachtung im Krankenhaus benötigt hatte, paßten leicht in ihre Schultertasche aus beigem Leinen, obwohl darin bereits ein ganzer Stapel fotokopierter medizinischer Artikel lag. Die Tasche stammte noch aus ihrer Studienzeit; sie war schmutzig und an einigen Stellen schon fast durchscheinend, aber trotzdem – oder gerade deshalb – hing sie daran wie an einem alten Freund. Auf einer der beiden Seiten prangte ein großes rotes Herz. Zwar hatte sie zum Medizinexamen einen Aktenkoffer geschenkt bekommen, aber sie zog die Leinentasche vor. Der Aktenkoffer schien ihr zu großspurig. Außerdem ging in die Tasche mehr hinein.
    Cassi warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb sechs, genau die richtige Zeit. Sie wußte, daß Thomas jetzt gerade die letzten Patienten empfing. Das Schöne an ihrem Job in der Psychiatrie war die regelmäßige Arbeitszeit. In der Pathologie oder auf den Stationen wurde im allgemeinen nicht vor halb sieben oder sieben Schluß gemacht, manchmal arbeitete man sogar bis acht oder halb neun. In der Psychiatrie konnte sie davon ausgehen, nach der Nachmittagskonferenz von vier bis fünf fertig zu sein, vorausgesetzt, sie hatte keinen Bereitschaftsdienst.
    Sie trat auf den Korridor und wunderte sich, daß er so leer war, bis ihr einfiel, daß gerade das Abendessen serviert wurde.
    Als sie am Gemeinschaftsraum vorbeiging, konnte sie die Patienten vor dem Fernsehapparat sitzen sehen, das Tablett auf dem Schoß. In ihrem winzigen Büro sammelte sie die Krankenblätter ein, mit denen sie sich am Nachmittag beschäftigt hatte. Es waren nur vier, darunter das von Colonel Bentworth, denn mehr Patienten waren ihr noch nicht zugeteilt worden. Für jeden hatte sie fein säuberlich eine Karteikarte mit Auszügen aus den Krankenblättern angelegt.
    Mit den Krankenblättern im Arm und der Leinentasche über der Schulter begab sie sich zum Schwesternzimmer. Joel Hartmann, der diese Nacht Bereitschaftsdienst hatte, saß auf dem Schreibtisch und plauderte mit zwei Stationsschwestern. Cassi ordnete die Krankenblätter wieder ein und wünschte allen einen schönen Abend. Joel wünschte ihr ein schönes Wochenende, und sie solle sich keine Sorgen machen, denn bis Montag hätte er ihre Patienten alle geheilt.
    Als sie zum ersten Stock hinunterging, spürte sie, wie ihre Anspannung nachließ. Die erste Woche in der Psychiatrie war anstrengend und mühsam gewesen – nichts, was sie gern noch einmal erlebt hätte.
    Sie nahm den Fußweg zum Behandlungsgebäude und fuhr dort in den dritten Stock hinauf, wo Thomas sein Büro hatte. Auf der polierten Eichenholztür stand in schimmernden Messingbuchstaben Dr. Thomas Kingsley, Herz- und Brustchirurgie. Stolz wallte in ihr auf.
    Das Wartezimmer war geschmackvoll mit Chippendale-Reproduktionen möbliert. An den blau tapezierten Wänden hingen Originalgemälde zeitgenössischer Künstler. Die Tür zum Sprechzimmer wurde von einem Mahagonischreibtisch bewacht, an dem Doris Stratford, Thomas Kingsleys Sprechstundenhilfe, Dienst tat.

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