Gottspieler
OP gerufen worden war, ein Notfall. Sie hatte eine Nachricht für ihn hinterlassen und bis zwei Uhr morgens gewartet, ehe sie endlich mit einem Buch in der Hand eingeschlafen war. Thomas war erst am Sonntagnachmittag nach Hause gekommen, und statt sie anzubrüllen, hatte er sich geweigert, überhaupt mit ihr zu reden. Mit bewußt zur Schau gestellter Ruhe nahm er seine Kleider und zog in das Gästezimmer neben seinem Arbeitsraum um.
Für Cassi war dieses schweigende Strafgericht eine unerträgliche Belastung. Das wenige, was sie miteinander redeten,drehte sich um Belanglosigkeiten. Am schlimmsten war es während der Mahlzeiten, und verschiedentlich gab Cassi vor, Kopfschmerzen zu haben, um nicht mit Thomas und seiner Mutter im gleichen Zimmer essen zu müssen.
Nach einer guten Woche war Thomas endlich explodiert, und zwar wegen einer Banalität. Cassi hatte ein Waterford-Glas auf den gefliesten Küchenboden fallen lassen, wo es zersprungen war. Thomas war in die Küche gestürmt und hatte zu brüllen begonnen, wobei er Cassi als Verräterin beschimpfte und sie anklagte, hinter seinem Rücken gegen ihn zu intrigieren. Wie konnte sie es wagen, zu seiner Mutter zu gehen und ihn des Drogenmißbrauchs zu bezichtigen?
»Natürlich nehme ich hin und wieder eine Tablette«, sagte er und senkte seine Stimme endlich wieder auf normale Zimmerlautstärke. »Entweder, damit ich einschlafen oder damit ich nach einer Nacht ohne Schlaf meiner Pflicht nachkommen kann. Zeige mir einen einzigen Arzt, der sich nie aus seinem eigenen Medikamentenschrank bedient hat!« Mit dem ausgestreckten Zeigefinger unterstrich er seine Vorwürfe.
Da sie selbst hin und wieder eine Valium genommen hatte, lag es gar nicht in Cassis Absicht, ihm zu widersprechen. Davon abgesehen wußte sie instinktiv, daß es besser war, den Mund zu halten und ihn seinen Ärger artikulieren zu lassen. Als er sich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, fragte er, warum in Gottes Namen sie denn unbedingt zu Patricia gehen mußte. Gerade sie hätte doch wissen müssen, wie sehr seine Mutter dauernd an ihm herumnörgelte, auch ohne daß man ihr eine solche Waffe in die Hand gab.
Cassi versuchte zu erklären. Sie sagte, daß sie, als sie zufällig auf das Dexedrine gestoßen war, große Angst gehabt habe und fälschlicherweise der Meinung gewesen sei, daß Patricia ihm bei einem solchen Problem am besten helfen könnte. »Und ich habe nie gesagt, du wärst ein Süchtiger.«
»Meine Mutter behauptet das Gegenteil«, schnappte Thomas. »Wem soll ich denn jetzt glauben?« Angewidert warf er die Hände in die Luft.
Cassi antwortete nicht, obwohl sie versucht war, zu bemerken, daß er nach zweiundvierzig Jahren mit Patricia eigentlich wenigstens über diesen Punkt Klarheit haben müßte. Statt dessen entschuldigte sie sich für die Schlüsse, die sie angesichts der Tablette gezogen hatte, und – schlimmer noch – dafür, daß sie mit ihrem Problem zu seiner Mutter gerannt war. Unter Tränen erklärte sie ihm, wie sehr sie ihn liebe, und war sich dabei durchaus der Tatsache bewußt, daß sie lieber einen möglichen Drogenabhängigen zum Mann hatte, als wieder allein leben zu müssen. Sie wollte, daß alles zwischen ihnen wieder normal wurde. Wenn es damit angefangen hatte, daß ihm die ständigen Klagen über ihre Krankheit zuviel geworden waren, dann würde sie ihn eben in Zukunft mit diesem Thema verschonen. Aber nun zwang ihr Auge sie zu einem Rückzieher. Die Ankunft eines weiteren Ambulanzwagens brachte Cassi wieder in die Gegenwart zurück. So sehr sie sich auch wünschte, Thomas nie wieder zu verärgern, diesmal hatte sie keine Wahl. Sie konnte sich nicht einfach dieser Operation unterziehen, ohne ihm davon zu erzählen, selbst wenn sie irgendwoher den Mut dazu nehmen sollte. Von entsetzlichen Vorahnungen erfüllt, drückte sie den Fahrstuhlknopf. Sie befand sich auf dem Weg zu Thomas, und sie wußte, daß sie jetzt gleich mit ihm reden mußte, denn wenn sie erst zu Hause waren, würde sie den Mut nicht mehr aufbringen.
Während sie zum dritten Stock hinunterfuhr, versuchte sie, alle Gedanken abzuschalten, um nicht doch noch anderen Sinnes zu werden. Sie stieß die Tür zur Praxis ihres Mannes auf. Glücklicherweise saßen keine Patienten mehr im Wartezimmer. Wie üblich blickte Doris nur kurz von ihrer Schreibmaschine auf, gerade lang genug, um Cassis Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen, ehe sie wieder an ihre Arbeit zurückkehrte.
»Ist Thomas da?« fragte
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