Grab im Wald
trocken.« Ich legte es weg und wischte mir die Finger mit der Serviette ab. »Lassen Sie mich raten. Einer von Ihren Kollegen aus Manhattan hat Ihnen was vom Mord an Manolo Santiago erzählt?«
»Genau.«
»Hat er Ihnen auch erzählt, wie meine Theorie aussieht?«
»Dass er einer von den Jungs ist, die der Sommer-Schlitzer damals im Lager angeblich ermordet hat, obwohl seine Eltern sagen, dass er es nicht ist.«
»Gut zusammengefasst.«
»Ja, das hat er mir erzählt.«
»Und?«
»Und jetzt sind die Kollegen überzeugt, dass Sie übergeschnappt sind.«
Ich lächelte. »Und Sie?«
»Ich hätte auch gedacht, dass Sie übergeschnappt sind. Aber jetzt …«, sie deutete auf das Fax, »… hab ich ja gesehen, wozu Sie fähig sind. Also habe ich beschlossen, dass ich mit reinwill.«
»Wo rein?«
»Sie wissen ganz genau, was ich meine. Sie wollen ermitteln, stimmt’s? Sie wollen rausbekommen, was damals im Wald passiert ist.«
»Ich werde es versuchen«, sagte ich.
Sie breitete die Arme aus. »Tja, und da will ich mit rein.«
»Ich kann es nicht zulassen, dass wir hier die Angelegenheiten des Countys mit meinen Privatangelegenheiten vermischen.«
»Erstens«, sagte Muse, »obwohl alle davon überzeugt sind, dass Wayne Steubens damals auch die vier Jugendlichen in New Jersey umgebracht hat, ist die Akte formal noch nicht geschlossen. Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist da doch tatsächlich ein vierfacher Mord ungeklärt geblieben.«
»Das war nicht in unserem Zuständigkeitsbereich.«
»Woher wollen wir das so genau wissen? Wir wissen doch nur, wo die beiden Leichen gefunden wurden. Und ein Opfer, Ihre Schwester, hat hier in Newark gewohnt.«
»Das ist jetzt ziemlich weit hergeholt.«
»Zweitens werde ich für vierzig Stunden in der Woche bezahlt. Ich arbeite aber eher achtzig. Das wissen Sie. Deshalb haben Sie mich befördert. Also ist es meine Sache, was ich außerhalb dieser vierzig Stunden tue. Oder von mir aus kann ich meine Arbeitszeit auch auf hundert Stunden erhöhen. Das kratzt mich nicht. Und bevor Sie fragen, nein, ich will nicht nur meinem Boss einen Gefallen tun. Sehen Sie es doch mal von der Seite. Ich bin Ermittlerin. Wenn ich den Fall löse, wäre das ein Riesenerfolg für mich. Und, was halten Sie davon?«
Ich zuckte die Achseln. »Was soll’s.«
»Ich bin drin?«
»Sie sind drin.«
Sie sah sehr zufrieden aus. »Und womit fangen wir jetzt an?«
Ich dachte darüber nach. Ich musste noch etwas erledigen.
Bis jetzt hatte ich es vermeiden können. Aber das ging jetzt beim besten Willen nicht mehr.
»Wayne Steubens«, sagte ich.
»Der Sommer-Schlitzer.«
»Ich muss mit ihm reden.«
»Sie kannten ihn, stimmt’s?«
Ich nickte. »Wir haben beide im Ferienlager als Betreuer gearbeitet.«
»Ich meine, ich habe mal gelesen, dass er keine Besucher empfängt.«
»Dann müssen wir dafür sorgen, dass er sich das anders überlegt«, sagte ich.
»Er sitzt in Hochsicherheitsverwahrung in Virginia«, sagte Muse. »Ich könnte ein paar Telefonate führen.«
Muse wusste schon, wo Steubens einsaß. Unglaublich.
»Tun Sie das«, sagte ich.
Es klopfte und meine Sekretärin Jocelyn Durels öffnete die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. »Nachrichten«, sagte sie. »Soll ich sie auf Ihren Schreibtisch legen?«
Ich winkte, dass sie mir die Zettel geben sollte. »Irgendwas Wichtiges dabei?«
»Eigentlich nicht. Jede Menge Anfragen von Reportern. Die müssten doch eigentlich wissen, dass Sie im Gericht sind, sie rufen aber trotzdem an.«
Ich nahm die Nachrichten und blätterte sie durch. Dann sah ich Muse an. Sie schaute sich um. Es gab fast nichts Privates im Büro.
Bei meinem Einzug hatte ich ein Foto von Cara auf den Aktenschrank gestellt. Zwei Tage später verhafteten wir einen Kinderschänder, der einem Kind in Caras Alter unaussprechliche Dinge angetan hatte. Wir führten in diesem Büro ein Gespräch über ihn. Dabei musste ich immer wieder das Foto meiner Tochter ansehen, bis ich schließlich aufstand und es zur Wand
drehte. Am Abend habe ich das Foto dann mit nach Hause genommen.
Dies war nicht der richtige Ort für Cara. Es war nicht einmal der richtige Ort für ihr Foto.
Ich blätterte weiter durch die Nachrichten, als mir etwas ins Auge fiel.
Meine Sekretärin benutzte immer diese altmodischen, rosafarbenen Notizzettel, bei denen sie die Nachricht von Hand schrieb und eine gelbe Durchschrift im Block blieb. Ihre Handschrift ist tadellos.
Die Anruferin war, laut meinem
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