Grabesstille
großen Sikorsky zu fliegen.
»Und, hast du immer noch Urlaub?«, fragte er mich.
»Nein, ich arbeite sogar morgen Nacht«, antwortete ich und schilderte ihm meine sagenhaften Arbeitszeiten.
»Das ist ja echt zum Kotzen«, sagte er, was mich überlegen ließ, ob er nicht schon ein bisschen zu viel Zeit mit Stinger verbracht hatte.
»Das ist nur vorübergehend«, versicherte ich.
»Vielleicht komme ich dich bald mal besuchen. Die Hunde fehlen mir.«
»Danke.« Ich lachte.
»So habe ich es nicht gemeint!«
»Ich weiß, ich weiß. Wir freuen uns alle, wenn du mal Zeit findest, vorbeizukommen.«
Ich sah die erste Nachtschicht mit einiger Beklommenheit auf mich zukommen. Normalerweise macht es mir nichts aus, allein nach Mitternacht durch menschenleere Straßen zu fahren oder in der Nachtschicht in einem Büro zu arbeiten, doch mittlerweile war in meinem Leben überhaupt nichts mehr normal. Ich war überzeugt davon, dass mir Parrish auf diesen Straßen auflauern, dass Parrish kommen und mich in diesen leeren Korridoren stellen würde.
Er jagt dich, wo auch immer du bist, sagte ich mir. Ich konnte mich nicht bis in alle Ewigkeit im Haus verkriechen. Ein Leben in Angst war überhaupt kein Leben.
In dieser Stimmung befand ich mich gerade, als mir Frank erklärte, er wolle dafür sorgen, dass ich während meiner Nachtschichten bei der Zeitung nie allein war. Ich dagegen lehnte es strikt ab, einen Aufpasser mit in die Arbeit zu nehmen. Der Streit brachte für ein paar Stunden Schwung in die Bude. Dann fuhr er davon, kehrte eine Stunde später zurück und reichte mir ein Handy.
»Was ist das?«
»Mein Seelenfrieden.«
»Erwartest du etwa, dass ich das mit mir herumtrage –«
»Und es eingeschaltet lässt. Ja.«
»Können wir uns das leisten?«
»Es ist billiger als eine Beerdigung.«
»Frank!«
»Okay, okay. Aber trag es bitte bei dir – meinem Seelenfrieden zuliebe, ja?«
Ich gab nach.
Im Lauf der nächsten Woche befasste ich mich fast gar nicht mit dem Fall Sayre. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meinen Schlafrhythmus umzustellen und den Schreibkram abzuarbeiten, der sich auf meinem Schreibtisch beim Express angesammelt hatte. In den ersten Nächten war die Zeitung bereits in Druck gegangen, als ich eintraf. Ich unterhielt mich mit den Druckern im Keller und mit Jerry und Livy, die für die Wartung der Computer zuständig waren.
Frank stellte mich ein paar Mal auf die Probe und vergewisserte sich, dass ich das Handy eingeschaltet hatte, bis ich ihm schließlich damit drohte, dass ich, wenn er nicht aufhörte, mich zu Tode zu erschrecken, indem er das verdammte Telefon piepen ließ, das Ding zwischen die Rollen einer Druckmaschine stecken würde. Damit war dieses Problem erledigt.
Um halb zwölf versuchte ich, Newly zu erreichen. Niemand da.
In der Redaktion herrschten Leere und Stille.
Ich war kurz davor, nervös zu werden, als fünf Minuten vor Mitternacht mein Cousin Travis anrief.
»Geh aufs Dach«, verlangte er.
»Was?«
»Wir kommen dich besuchen!«, schrie er über das laute Geräusch im Hintergrund.
»Wer kommt mich besuchen?«
»Stinger und ich.«
»Toll. Wann?«
»Jetzt gleich.«
»Jetzt gleich? Soll das ein grober Scherz sein, Travis?«
»Geh aufs Dach des Express . Wir kommen in etwa zehn Minuten dorthin.«
»Spinnst du?«
»Nein, ich habe Stinger erzählt, dass du in der Spätschicht bei der Zeitung arbeiten musst und nicht besonders begeistert geklungen hättest, nachts dort allein zu sein. Also haben wir beschlossen, dass es lustig wäre, dich dort zu überraschen. Stinger meint, oben auf eurem Haus sei ein Landeplatz.«
»Das stimmt, aber –«
»Wer soll schon davon erfahren?«, fragte er, da er meine Einwände ahnte.
»Einer der beiden von der Computerwartung geht immer mal wieder zum Rauchen dort hoch.«
»Ist das jemand, der dich verpetzen würde?«
»Nein«, gab ich zu.
»Dann beeil dich! Wir sind schon fast da!«
Da ich es für möglich hielt, dass Wrigley anrief, um mich zu kontrollieren, stellte ich das Telefon auf meinem Schreibtisch so um, dass es sämtliche Anrufe zu meinem Handy umleitete.
Ich nahm die Treppen zur obersten Etage des Hauses – ein gutes Training – und zog die Tür mit der Aufschrift DACHZUGANG auf.
Dahinter folgte eine weitere Treppe. Als ich die letzte Tür öffnete und aufs Dach hinaustrat, nahm ich mir einen Moment lang Zeit, meine Umgebung zu genießen. Es war schön, draußen im Freien zu sein. Die Nachtluft war
Weitere Kostenlose Bücher