Grabesstille
kühl, aber nicht so kalt, dass ich mich nach einer Jacke gesehnt hätte. Eine leichte Meeresbrise wehte den schlimmsten Gestank der Stadt davon. Geräusche drangen zu mir herauf – gedämpfter Verkehrslärm, das Brummen von Transformatoren und Maschinen, die auf dem Dach untergebracht waren, das scharfe Kling-kling-kling der Seile an den Fahnenmasten, das leise Flattern der hell angestrahlten Flaggen (das Sternenbanner und der kalifornische Bär). In dieser ganzen Mixtur hörte ich auch das regelmäßige Geräusch eines noch entfernten, aber sich nähernden Hubschraubers.
Als ich über den Rand des Hauses nach unten spähte, konnte ich einige der Wasserspeier und andere Dekorationselemente sehen, die mir in der Kindheit stets Ehrfurcht gegenüber diesem Gebäude eingeflößt und es mir seitdem ans Herz hatten wachsen lassen. Ich dachte daran zurück, wie mein Vater mir erzählt hatte, dass hier die Zeitung hergestellt wurde, der Las Piernas News Express , der jeden Morgen so zuverlässig auf unserer Einfahrt landete, eine großartige Publikation, die nur aus einem so erhabenen Bau stammen konnte.
Ich fasste über das taillenhohe Geländer, fuhr mit den Fingern am rußigen Mauerwerk entlang und dachte an meine jugendliche Verehrung. »Und jetzt sieh nur, wohin dich das gebracht hat, altes Mädchen.«
Ich sah zu der flachen, schmucklosen Fassade des Wolkenkratzers nebenan hinüber, einem dunklen, grauen Nichts, das nur hie und da vom Lichtschein aus einem Büro durchbrochen wurde. Die Schachtel nannte ich es manchmal. Die Schachtel besaß noch andere Namen – ja, sogar so viele, dass die Schildermacher das Logo auf dem Dach alle paar Jahre auswechseln mussten. Trotz ihres neuen Glanzes waren dort nie sämtliche Räume vermietet gewesen. Im Wrigley stand inzwischen auch einiges leer, aber uns gab es ja schon viel länger. Wieder strich ich über das Gemäuer.
Ich wischte mir die Fingerspitzen ab und begann eine Runde zu gehen. Obwohl neuere und höhere Häuser ringsum es weniger spektakulär wirken ließen als früher, war der Blick vom Dach des Wrigley-Buildings nach wie vor atemberaubend.
Ich stand nicht am höchsten Punkt des Gebäudes: Ein Teil des Dachs barg verschiedene Aufbauten, die mitunter ziemlich hoch waren und sich am Ende des Dachs, neben der Treppe, befanden. Eine Reihe schmaler Gänge zog sich zwischen dem Gehäuse für die riesige Klimaanlage, verschiedenen Versorgungsleitungen, dem hoch aufragenden Block mit Satellitenschüsseln und anderen Aufbauten dahin. Die Fahnenmasten und der lange, dünne Blitzableiter befanden sich oben auf einem der höchsten und längsten von ihnen. Der Raum darunter wurde überwiegend als Lager benutzt.
Trotz dieser Hindernisse konnte man um das ganze Dach herum laufen und ziemlich weit sehen. Ich hatte nicht die Zeit, um in dieser Nacht die große Tour zu machen, da ich den Hubschrauber immer näher kommen hörte.
Eilig ging ich auf die andere Seite des Hauses und stellte mich neben einen Bereich mit besonders glatter Oberfläche – den Hubschrauberlandeplatz.
Mittlerweile hatte ich den großen Sikorsky entdeckt. Sein Lärm übertönte sämtliche anderen Geräusche, ein grelles Licht schien unter ihm herab, und eine stechende Wolke aus Staub und Ruß hob sich im Gegenzug zu seinem allmählichen Herabsinken auf den Landeplatz.
Ich merkte, wie ich grinste, angetan von Travis’ Können, und mich fragte, was die schüchterne Schwester meiner Mutter von der extravaganten Ankunft ihres Sohnes gehalten hätte. Ich winkte und wartete, bis sie die Motoren abgestellt hatten und aus dem Cockpit kletterten.
»Bist du gerade selbst geflogen?«, fragte ich Travis, nachdem wir einander begrüßt hatten und obwohl ich ganz genau wusste, dass die Antwort ja war.
»Ja«, bestätigte er. »Meine erste Landung auf einem Gebäude mitten in der Stadt!«
»Deine erste?«, wiederholte ich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich diese Aussage beunruhigte. »Das hast du prima hingekriegt.«
»Entschuldigen Sie den vielen Staub«, sagte Stinger und schüttelte mir die Hand. »Ist wohl schon ‘ne Weile her, dass hier jemand gelandet ist?«
»Ja. Der Express hatte früher mal einen eigenen Hubschrauber, aber das war vor den Budgetkürzungen. Jetzt hat die Zeitung einen Vertrag mit einer Firma am Flughafen. Sie kommen her, holen Reporter und Fotografen ab und bringen uns überallhin, wo wir hinmüssen«, erklärte ich. »Ich finde, mit unserem eigenen waren wir
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