Grabkammer
Poststempel trug – die Briefmarke war wie neu.
Er hat ihn selbst eingeworfen. Er ist in meine Straße gekommen und hat ihn in meinen Briefkasten gesteckt.
Was hat er sonst noch für mich dagelassen?
Sie spähte zum Fenster hinaus und fragte sich, welche Geheimnisse die Dunkelheit wohl verbarg. Ihre Hände waren wieder feucht, als sie zum Schalter für die Außenbeleuchtung ging. Fast fürchtete sie sich vor dem, was sich im Licht zeigen würde. Würde ihr Bradley Roses Gesicht entgegenstarren, wenn sie zum Fenster hinaussah? Doch als sie den Schalter drückte, tauchten im grellen Schein keine Monster, keine grimmigen Fratzen auf. Sie sah den Gasgrill und die Gartenmöbel aus Teak, die sie letzten Monat gekauft, aber noch kein einziges Mal benutzt hatte. Und hinter der Terrasse, am Rand des erhellten Bereichs, konnte sie schemenhaft den Rand ihres Gartens erkennen. Alles wie immer, kein Grund zur Beunruhigung.
Dann registrierte sie aus dem Augenwinkel etwas Helles, das sich wellenförmig bewegte, ein flatterndes weißes Etwas in der Dunkelheit. Sie mühte sich zu erkennen, was es war, doch es wollte einfach keine feste Gestalt annehmen. Sie nahm die Taschenlampe aus der Küchenschublade und leuchtete in die Nacht hinaus. Der Strahl fiel auf den japanischen Birnbaum, den sie vor zwei Sommern in der hintersten Ecke des Gartens gepflanzt hatte. An einem seiner Äste hing etwas Weißes, das träge im Wind hin und her schwang.
Es klingelte an ihrer Tür.
Sie wirbelte herum und schnappte erschrocken nach Luft.
Als sie in die Diele eilte, sah sie durch das Wohnzimmerfenster das flackernde Blaulicht eines Streifenwagens. Sie öffnete die Haustür und erblickte zwei Polizisten vom Revier Newton.
»Alles in Ordnung, Dr. Isles?«, fragte einer der beiden.
»Wir haben eine Meldung bekommen, dass es hier möglicherweise einen Einbruchsversuch gegeben hätte.«
»Nein, es ist alles okay.« Sie atmete erleichtert auf. »Aber kommen Sie doch mal eben mit – ich möchte, dass Sie sich etwas anschauen.«
»Was denn?«
»Es ist hinten in meinem Garten.«
Die Streifenpolizisten folgten ihr durch den Flur in die Küche.
Dort hielt sie einen Moment inne und fragte sich, ob sie gerade im Begriff war, sich fürchterlich zu blamieren. Die hysterische alleinstehende Frau, die sich einbildete, dass in ihrem Birnbaum Gespenster lauerten. Jetzt, da zwei Cops an ihrer Seite standen, war ihre Angst verflogen, und praktischere Überlegungen drängten sich in den Vordergrund. Falls der Mörder tatsächlich etwas in ihrem Garten hinterlassen hatte, dann musste sie sich dem Gegenstand auf professionelle Weise nähern.
»Warten Sie hier einen Moment«, sagte sie und lief zurück zum Flurschrank, wo sie die Schachtel mit den Latexhandschuhen aufbewahrte.
»Möchten Sie uns vielleicht mal erklären, was hier vorgeht?«, rief einer der Polizisten.
Sie kam mit der Schachtel in der Hand in die Küche zurück und reichte jedem der beiden ein Paar Handschuhe. »Nur für alle Fälle«, kommentierte sie.
»Wozu sollen die denn gut sein?«
»Damit wir keine Spuren vernichten.« Sie nahm die Taschenlampe und öffnete die Hintertür. Die milde Sommernacht duftete nach Rindenmulch und feuchtem Gras. Langsam schritt sie voran, schwenkte den Strahl über die Terrasse, das Gemüsebeet, den Rasen, auf der Suche nach weiteren Überraschungen, die speziell für sie bestimmt waren. Das Einzige, was nicht hier hergehörte, war das, was da vor ihnen im Halbdunkel flatterte.
Sie blieb vor dem Birnbaum stehen und richtete die Taschenlampe auf den Gegenstand, der dort am Ast hing.
»Das Ding da?«, fragte der Cop. »Das ist doch bloß eine Einkaufstüte. »
Mit etwas darin. Sie dachte an all die grausigen Gegenstände, die in einer Einkaufstüte Platz finden würden, all die makabren Souvenirs, die ein Mörder seinen Opfern abnehmen könnte, und plötzlich wollte sie gar nicht mehr sehen, was in der Tüte war. Ich überlasse das Jane, dachte sie. Soll doch jemand anders den ersten Blick darauf werfen.
»Ist es das, was Ihnen Kummer macht?«, fragte der Cop. »Er hat das hier zurückgelassen. Er ist in meinen Garten eingestiegen und hat es an diesen Baum gehängt.«
Der Polizist zog seine Handschuhe an. »Na, dann schauen wir eben einfach nach, was es ist.«
»Nein. Warten Sie …«
Aber er hatte den Beutel bereits vom Ast abgenommen.
Jetzt leuchtete er mit seiner Taschenlampe hinein, und trotz der Dunkelheit konnte sie sehen, wie er das Gesicht
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