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Grabmoosalm (German Edition)

Grabmoosalm (German Edition)

Titel: Grabmoosalm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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trug.
    Ottakring kannte das Verfahren bereits von zahlreichen Besuchen. Er
blieb stehen und wartete auf das dahingenuschelte »Avemariapurissima«, das
gleich über ihn hereinbrechen würde.
    Doch es kam nicht.
    »Sie waren bei der Beerdigung?« Die Stimme der Nonne war tief und
klang müde.
    Ottakring war nicht sicher, ob sich die Frage von seinem Aussehen
herleitete. Trotzdem leuchtete sein Gesicht auf, weil ihm offensichtlich das
heilige Geschwafel erspart geblieben war.
    »Ja. Ist meine Mutter wach?«
    Eine knochige Hand fuhr aus einem weiten Ärmel und deutete nach
oben.
    »Wie immer. Zweiter Stock, fünfte Tür links.«
    Ohne einen Mucks von sich zu geben, wollte der Kriminalrat der
nächsten Steintreppe folgen. Doch die Stimme hinter ihm, die klang, als käme
sie aus einem Ofenrohr, hielt ihn zurück.
    »Ihre Mutter ist doch mit der Moserin befreundet?«
    »Ja«, rief er ins Ungewisse zurück.
    »Geben Sie nichts auf die Freundin Ihrer Mutter. Die spricht wieder
wirres Zeug.«
    Die Treppe führte ihn an eine geschlossene Tür.
    »Offen!«, rief der Raubvogel von unten. Ein Summer ertönte. Ottakring
drückte auf und ließ die Tür wieder hinter sich ins Schloss fallen.
    Er stand in einem höhlenartigen Korridor, dessen Geruch ihn an einen
U- oder S-Bahn-Schacht oder an ein Heimatmuseum erinnerte. Die Augen mussten
sich erst anpassen. Im Halbdunkel weiterer Sparlampen waren zu beiden Seiten
wie senkrecht aufgestellte Särge Holztüren sichtbar, die teils geöffnet, teils
geschlossen waren.
    Auf den ersten Blick hatte Ottakring das Gefühl, er sähe eine
Sammlung von Wachsfiguren, die mit glasig-toten, wie Zwanzig-Cent-Münzen glänzenden
Augen herumstanden oder -saßen. Man hätte denken können, es handle sich um
Puppen oder die Reste aus einer Ausgrabung. Doch sehr langsam und behutsam
bewegten sich die Gestalten. Sie hatten kein bestimmtes Alter oder Geschlecht
und waren in lange oder kürzere Gewänder gekleidet, die früher von
alpenländischer Natur gewesen sein mussten.
    Die fünfte Figur von links war Ottakrings Mutter.
    »Na endlich«, krächzte Frau Ottakring mit brüchiger Stimme.
    »Grüß dich, Mama«, sagte der Kriminalrat.
    »Hast du den Haftbefehl dabei?«, fragte sie.
    Auf Ottakrings Stirn begannen sich Schweißperlen zu bilden. »Hä?«,
sagte er.
    »Den Haftbefehl. Für die Moserin.«
    Nicht die Moserin, seine eigene Mutter sprach wirres Zeug.
    Herr Adlmayer, ein Koloss von einem Mann, war in den
fünfziger Jahren unter dem Pseudonym » I.   K. Staatenlos«
als Catcher im Ring aufgetreten. Auf Volksfesten trat er gegen jeden an. Als es
ruhiger um ihn geworden war, arbeitete er in einem Zirkus als Transportarbeiter
und Lagerist. Im Grandis kannte man ihn nur in einem ausgebeulten blauen,
weißen, grünen oder rot gestreiften Trainingsanzug, je nachdem, welcher gerade
nicht in der Wäsche war. Im Gemeinschaftsraum, den sie »Casino« nannten,
pflegte er reglos am Tisch zu sitzen, bis ihm das Geplapper ringsum zu viel wurde.
Dann stand er unvermittelt auf und ging mit geballten Fäusten auf einen
Mitbewohner zu.
    »Halt dein Maul!«, rief er gerade. Er wischte sich den Schaum vom
Mund. »Oder ich nehm dich in den Würger!«
    Der, den er bedrohte, war in diesem Fall Ephraim Stubenrauch,
Trompeter und pensioniertes Mitglied der Münchener Philharmoniker, Solist für
Barockmusik. Der war meist dunkel gekleidet und trug weiße Handschuhe. Er saß
züchtig wie ein Mädchen auf seinem Stuhl, den Trompetenkasten auf den Knien,
und wartete mit geduldigem Lächeln darauf, dass man ihn zur Probe abholte.
    »Wann kommen die endlich? Wann nur? Ich versäume die Probe und werde
vom Dirigenten geschimpft. Wann kommen die nur? Ja, wann endlich?«
    Er klagte, bis der Würger kam und ihn zur Räson rief.
    Frau Michalke, ehemalige Postbotin, klaute leidenschaftlich gern
Kleidungsstücke aus anderen Zimmern. Damit getarnt, ging sie von Bude zu Bude
und lieferte die Post ab, die sie mit eigenen Händen vorher mühsam erschaffen
hatte. Sie war bei allen herzlich willkommen. Wer bekommt nicht gern Post?
    Pauline, deren Nachnamen keiner kannte, war die Witwe eines
Kampfpiloten aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie hatte schütteres graues Haar und
ein spitzes Kinn. Jeden Tag hatte sie etwas anderes an und immer eine braune,
abgewetzte Handtasche dabei. In dieser Handtasche befand sich nichts als ein
Telefon. Ihre Mitbewohner hielt sie für Betrüger, und sie wollte das Gerät
retten, damit niemand anders als sie es nutzen

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