Grabmoosalm (German Edition)
konnte. Dieses Mobilteil eines
Festnetztelefons hatte längst seinen Geist aufgegeben, die Akkus waren leer.
Deshalb beschwerte sich Pauline stündlich und lautstark bei der Auskunft.
Ein gefundenes Fressen für Herrn Adlmayer, der auf der Stelle
einschritt und mit Erwürgen drohte.
Dr. Alfons Mindler war sozusagen der Klassensprecher. Der
Betriebsrat. Der Intellektuelle. Ein gutes Zeichen dafür, dass frühere
Fähigkeiten auch unter der Fuchtel seines Krankheitsbilds nicht verloren gehen
müssen. Ein kultivierter und charmanter Mann mit Seemannsbart, der sich gewählt
auszudrücken wusste und über Phantasie und selbst unter diesen Umständen über
eine Portion Humor verfügte.
»Mir fehlt nichts. Ich mache nur gelegentlich Fehler«, war sein
Bekenntnis.
Wenn er am Fenster stand, sagte er: »Die Straßengeräusche, das
Gekreische des Herrn Stubenrauch – fast wie eine Symphonie, finden Sie
nicht? Kennen Sie Josef Stalins ›Sibiria‹ in d-Moll?«
Meist stand er barfuß am Fenster. Er hatte nicht darüber
nachgedacht, Schuhe anzuziehen. Er hielt seine Füße für Schuhe.
Frau Lunau war ihr Leben lang von ihrem geschiedenen Ehemann
finanziell unterhalten worden und hatte nie einen Beruf ausgeübt. In den vergangenen
dreißig Jahren war sie Vegetarierin gewesen. Jedes Jahr an Silvester hatte sie
sich eine blaue Forelle vorsetzen lassen, das war alles an Fleisch gewesen.
Sahne auf einem Stück Kuchen hätte sie als Ekel-Food empfunden.
Nun tafelte sie mit den anderen am langen Tisch und aß mit großem
Vergnügen das montägliche Curryhuhn und sonntags den festlichen Braten. Auch
den Nachtisch, die Schokotorte mit Sahnehäubchen, verschmähte sie nicht.
Sie hatte vergessen, dass sie Vegetarierin war.
Kriminalrat Joe Ottakrings Mutter war seit dem 24. Oktober des
vergangenen Jahres Insassin. Seither hatte er sie als braver Sohn schon häufig
besucht, sie hatte sonst niemanden. In diesen Monaten hatte sich ihr geistiger
Zustand verschlechtert.
Gretl Ottakring war eine zierliche, fast durchsichtige Frau in den
Achtzigern, die keinen Zentner wog. Erst vor zwei, drei Jahren hatte ihr Sohn
erfahren, dass das wundervoll herabperlende schwarze Haar, das ihr über die
Schulter fiel, gefärbt war. Immer schon gefärbt gewesen war. Selbst ihn, den
erfahrenen Kriminaler, hatte sie täuschen können. Seit sie zum Färben oder
Tönen nicht mehr in der Lage war, fraß das natürliche graue Haar das schwarze
von innen her auf. Diesen Mangel versuchte sie mit aquarellbunten, beinahe
transparenten Kleidchen, die bis zur Kniemitte reichten, wieder wettzumachen.
Wenn die Mama sich wie eine Seiltänzerin mit ängstlich von sich
weggestreckten Armen bewegte, hielt ihr Ottakring wie selbstverständlich die
Hand hin, um sie zu stützen und zu führen. Der kleinste Höhenunterschied von
einem Korridor zum anderen konnte zu schlimmen Brüchen oder gar zum Tod führen.
Gretl Ottakring nahm dann seine Hand und lächelte. Sie bedankte sich
mit dünnem Stimmchen. Sie lächelte auch, wenn sie ihrem Sohn zum Abschluss
seines Besuchs einen Kaffee kochen wollte. Dann stand sie vor der Maschine im
Casino, sah die Maschine an, sah ihren Sohn an, wieder die Maschine und wusste nicht,
was sie mit der modernen Technik anfangen sollte.
»Ja, das wollte ich grad auch tun«, rief sie glücklich und lächelte,
wenn er schließlich den Startknopf drückte.
Oder sie verharrte eine Viertelstunde vor dem Kleiderschrank, um
sich für einen kurzen Spaziergang etwas Warmes anzuziehen, und hatte vergessen,
warum sie vorm Kleiderschrank stand. Vor wenigen Monaten waren es noch Minuten
gewesen, bis sie den Faden wieder fand. Inzwischen fand sie ihn nie mehr.
Oder – oder – oder …
Oft gab Gretl Ottakring einen dumpfen Laut von sich, als ränge sie
mit dem Tod. Erst nach Sekunden ging ihr dann auf, dass das Geräusch aus ihrem
Mund kam. Dann lachte sie.
Manchmal musste der große Ottakring sich umdrehen und weinen, wenn
er seine Mutter so erlebte. Das Mitgefühl des eigenen Fleischs und Bluts.
»Mama, was redest du da. Haftbefehl. Wieso soll ich …?«
Um sie herum hatte sich eine Gruppe undefinierbarer Gestalten
angesammelt, welche die Ottakrings mit neugierigen oder ängstlichen Blicken
beäugten. »Ja, wieso soll sie?«
Die Befragung seiner Mutter über den Grund ihrer Frage brachte
nichts ein. Nur leere Blicke, Gewimmer, Rülpser und irre Reden.
Bis sich eine hagere Frau in gerader Haltung vordrängte. Sie trug
ein sauberes,
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