Grabmoosalm (German Edition)
Haus.
Normalerweise wäre jetzt der Bub aufgetaucht oder die Sissi, oft
beide zusammen. Doch niemand kam.
Wo war der Bub?
Die Resi rannte ans Fenster, schob die weiß-rot gestreiften Wollvorhänge
zur Seite und schaute hinaus. Auf der Terrasse standen Tische und Stühle
säuberlich aufgereiht. Aschenbecher und Salz und Pfeffer auf den Tischen,
Kissen auf den Stühlen. Der Traktor stand da, die Garage war offen. Doch kein
Pfeiferl und keine Sissi weit und breit.
Gehetzt eilte die Resi zur Tür und riss sie auf.
»Pfeiferl! Seppe! Wo seid ihr?«
Sie pfiff auf zwei Fingern.
»Sissi! Komm!«
Aus dem Wald gegenüber schallte ihr Echo leise zurück. Sie hätte
sich von Herzen eine andere Reaktion gewünscht. Wo waren sie?
Der Seppe, der sich sonst keinen Schritt von daheim zu entfernen
wagte. Wohin war er verschwunden?
Verflixte Ferien! Während der Schulzeit wäre so was nicht passiert.
Bald bräche die Dämmerung herein. Die Resi kriegte es mit der Angst
zu tun.
»Dada di dit«, pfiff der Pfeiferl leise. Die Sissi folgte
ihm dicht auf den Fersen. Sie waren beide etwa gleich groß und achteten sorgfältig
darauf, keine überflüssigen Geräusche im Wald zu verursachen, der wieder einmal
voll Dunst und dünnem Nebel war.
Sie bewegten sich wie Soldaten über ein Minenfeld.
Die Sissi hatte sich erstaunlich schnell auf die neuen Befehle
umgestellt. Zuerst, als der Seppe sie nicht mehr rief, sondern nach ihr pfiff,
hatte sie nur die Ohren angelegt und ihren jungen Herrn fragend angesehen. Nun
aber wedelte sie bei jedem Pfeifkommando freudig mit dem Schwanz und folgte ihm
mit glänzenden Augen.
Sie kamen an eine besonders enge, verfilzte Baumgruppe, an welcher
der Pfad vorbeilief. Der Pfeiferl musste sich ducken, um durchs Gebüsch zu
kommen, und die Sissi bewegte ihren schmalen, langen Körper aalgleich wie eine
Schlange.
Weit war’s nicht mehr bis zur Wolfshöhle.
Bei aller Vorsicht und allem Nervenflattern musste der Pfeiferl oft
an den Tag denken, als die Moserin die Großmutter erschoss. Er hatte so etwas
schon einmal im Fernsehen gesehen. Doch in echt war es etwas ganz anderes.
Allein das viele Blut überall! Und der halbe Kopf war weg. Dass
seine Großmutter tot war, hatte der Bub zwar begriffen. Aber so richtig ins
Bewusstsein gedrungen war’s ihm noch nicht. Es war, als ob er sie auf einem
vergilbten Foto betrachten würde, das Gesicht halb im Schatten. Und mit einer
Miene, als sei das Bild gegen ihren Willen aufgenommen worden.
Er erinnerte sich genau an die hagere Gestalt, ihre nervösen, fahrigen
Bewegungen und ihre Stimme, die klang wie die vom Direktor in der Schule.
Seither konnte er nicht mehr reden.
Er mochte seine Großmutter, nicht nur weil sie den besten Zimt-Grießbrei
von der ganzen Welt zubereiten konnte. Jedenfalls war sie für ihn nicht tot.
Sooft er konnte, fuhr er mit dem Radl zum Friedhof. Dann stand er
vor der großen Grabplatte, unter der die Großmutter lag. Dass sie sich
freiwillig in ein Feuer gelegt hatte, um verbrannt zu werden, mochte er nicht
glauben. Für ihn lag sie da unten und schlief, und er konnte mit ihr reden.
Nach außen hörte es sich wie Pfeifen an. Aber für ihn war es reden. Er hatte
gar nichts dagegen, dass er nicht mehr richtig reden konnte so wie früher und
wie die anderen Menschen. Und er hatte auch nichts dagegen einzuwenden, dass
die Mama ihn jetzt Pfeiferl nannte. Ihm gefiel der neue Name.
Sie hatten das Dickicht hinter sich gelassen. Es wurde schon ein
bisschen dunkel, und der Pfeiferl kniff die Augen zusammen und dachte wieder an
den Wolf. Auf einmal fing die Sissi an zu quietschen. Der Bub hob die Hand, und
beide blieben stehen.
Es fing leise zu regnen an.
Und mit dem Regen nahm der Pfeiferl den Geruch von so etwas wie
kaltem Schweiß wahr.
Die Sissi setzte sich leise und gefährlich knurrend neben ihn und
schaute ihn an.
Leise pfiff er »Da daa daa dit!«, was so viel hieß wie: »Vorsicht!
Jetzt wird’s ernst!«
Hochgradig nervös schaute die Resi auf die Uhr. Zwei
Stunden waren vergangen, seit sie die Abwesenheit der beiden bemerkt hatte. Die
Dunkelheit, die sich jetzt über die Grabmoosalm, den Wald, das Tal und die
Papierfabrik gesenkt hatte, kam ihr kalt und feindselig vor. Die Wolkendecke
war aufgerissen, der Regen hatte aufgehört, und es war kühl geworden.
Ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit überkam sie.
Nicht nur, dass ihr Bub verschwunden war.
Dass ihre Mutter tot war und die Großmutter schwachsinnig im Heim.
Selbst
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