Grabmoosalm (German Edition)
man als ihr Sohn Mitleid mit ihr bekommen. Hätte sie doch bloß
jemals Mitleid mit ihm gehabt.
Er blieb nicht lange. Er hatte das Gefühl, seine Pflicht erfüllt zu
haben. Er zog den Umschlag aus der Brusttasche, den er heute Früh im
Briefkasten gefunden hatte, und warf noch einmal einen kurzen Blick auf den
Inhalt.
»Mutter«, sagte er und musterte sie. »Wirst du jeden Tag in der Früh
gewaschen? Werden die Blumen gegossen? Putzt du dir vor dem Zubettgehen die
Zähne?«
Egal, was sie antwortete. Er konnte sehen, dass nichts von dem
stimmte. Sie verbreitete eine Duftwolke aus saurem Schweiß und ungewaschenen
Klamotten, die Alpenveilchen ließen die Köpfe bis zum Anschlag hängen, und die
Zahnpastatube stand ungeöffnet senkrecht auf ihrem Verschluss neben dem Becher.
Unentschlossen trat Ottakring ans Fenster und schaute hinaus. Er
staunte immer wieder über den Kontrast zwischen der Herkunft dieses Hauses, das
einmal ein Schlösschen gewesen war, und der Hinfälligkeit der alten Menschen.
Da unten im Innenhof sollten Tulpen, Rosen, Gladiolen und Dahlien blühen –
und nicht Unrat, Müll und verrostetes Gerät herumliegen.
Er behielt die Monatsrechnung in der Hand und stand auf. Es schien,
als hätte er mit der Verwaltung noch ein Hühnchen zu rupfen.
Bedauerlicherweise war die Heimleiterin zu Besorgungen
unterwegs und nicht zu sprechen gewesen. Er musste den Ärger möglichst zügig
vom Hals bekommen. Es war Betrug! Sie berechneten Leistungen, die nie und
nimmer erbracht wurden. Oder er sah sich gleich nach einem anderen Haus für
seine alte Dame um.
»Die Moserin ist eine Mörderin.« Wie ein herumsurrendes Insekt
schwirrte der Ausspruch seiner Mutter in seinem Kopf. Er fragte sich, ob darin
ein Körnchen Wahrheit stecken konnte. Wenige Stunden vor dem Unfall war er noch
auf der Grabmoosalm gewesen und hatte mit den drei Frauen gesprochen. Sogar ein
Handgemenge mit der Toten und der Alten um ein Gewehr gehabt. Gab es etwas, was
er damals nicht bemerkt oder erkannt hatte? Er musste es prüfen. Und wo ginge
das besser als am Tatort?
Er setzte sich ins Auto und fuhr den windungsreichen Weg hinauf zur
Alm. Die Presse hatte die Umstände des Todes mit keinem Wort erwähnt. Seltsam.
Im Präsidium wollte er nicht nachfragen. Denn was hatte er denn in Händen? Nur
sein Gespür aus tausend Jahren Berufspraxis, nichts weiter.
Nach der nächsten Kurve kam ihm der Gedanke an Chili. Chili Toledo
könnte er fragen. Sie arbeitete zwar in der Mordkommission, und um einen Mord
handelte es sich offiziell nicht. Doch Chili hatte ihre Augen und Ohren
überall. Nur – das hatte Zeit. Zuerst wollte er mit der Resi sprechen, der
Tochter der Toten, die jetzt die Alm führte.
War er verrückt? Warum sollte die Moserin ihre eigene Tochter
umbringen? Und wenn sie es getan haben sollte – hätte es sich in einer Art
geistiger Umnachtung abgespielt haben können? Wäre eine Alzheimer-Patientin
überhaupt in der Lage dazu? Könnte es sein, dass man in tiefer Demenz solch
eine Tat sofort oder bald darauf wieder vergaß? Interessante Überlegungen, fand
er. Rein theoretisch selbstverständlich.
Nachdem er scharf bremsen musste, um zwei Rehen auszuweichen, die
Sehnsucht nach der anderen Straßenseite hatten, war er da. Die riesige Dogge
kam ihm entgegengesprungen. Ein paar Wanderstöcke waren an die Hauswand
gelehnt. Zwei Autos parkten neben der Scheune. Eines der beiden Nummernschilder
kam ihm bekannt vor.
Wieder einmal fiel ihm die Wettersuppe auf, die über den Almwiesen
und über der Grabmoosalm selbst lag. In ganz Oberbayern bestach eine
alpenländische Bergwiese durch ihr sattes, frisches Grün, durch bunte Blumen
und einen kernigen Duft. Nur hier oben war alles in dumpfes Grau getaucht, das
wie dicke Milch aus dem Wald gekrochen kam. Er konnte das entfernte Läuten von Kuhglocken
hören, doch das Vieh selbst blieb unsichtbar im Dunst.
Vom Haus drangen Jubelschreie herüber, als er, die Handfläche auf
dem Nacken der Dogge, zum Eingang ging.
Er war noch fünf Schritte entfernt, da flog die schwere, mit Schnitzwerk
versehene Holztür auf.
Was er zu sehen bekam, verschlug Ottakring den Atem. Er packte den
Hund an den Ohren und hielt sich fest.
Chili Toledo trat in Begleitung der Jungwirtin aus dem Wirtshaus!
Chili besaß eine makellose Haut mit natürlichem Teint. Nun aber
waren ihre Wangen gerötet. Als erwachsene Frau kannte er sie nur in
figurbetonenden Jeans, die sie auch heute trug. Ihr tizianfarbenes Haar
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