Grabmoosalm (German Edition)
bemühte sich vergebens, sich zu erinnern.
»Als sie den Bauchschuss hatten, damals, Sie erinnern sich bestimmt?«
Selbstverständlich erinnerte er sich an seine Verletzung. Doch er
zeigte es nicht. Er schwieg.
»Selbstverständlich erinnern Sie sich. Wissen Sie auch noch, wo Sie
damals lagen? In welcher Klinik?«
Maria-Theresia-Klinik, erinnerte er sich.
Aber verdammt, wo sammer denn? Wieso ließ er sich einfach ausfragen?
Er war hier wegen …
»In der Maria-Theresia-Klinik am Bavariaring in München. Ein Haus
der Barmherzigen Schwestern. Genau«, rief sie in einem Ton aus, als habe sie es
mit einem ihrer Pflegebefohlenen zu tun.
Frau Unruh senkte ihren Blick auf die gefalteten Hände und sagte
übergangslos: »Man nannte mich damals Schwester Veneranda. Ich habe Sie
betreut.«
»Wie bitte?«
Ottakring musterte die Frau noch einmal im Schnellverfahren. Veneranda.
Veneranda. War sie auch schon von der Demenz befallen?
Oder er?
Bisher waren sie sich gegenübergestanden. Sie hinter dem armseligen
Tischchen, er davor. Nun setzte sie sich auf den Kinderstuhl hinter dem Tisch
und bedeutete ihm, auf dem Kinderstuhl davor ebenfalls Platz zu nehmen.
Erst als er schon saß, wurde ihm bewusst, dass er ihr widerspruchslos
gehorcht hatte.
Sie griff nach ihrem Haar, schob es seitlich zurück und lächelte ihn
an. Er sah nur mehr ihr schmales Gesicht. Und im Halbsekundentakt begann es zu
dämmern. Dieses Gesicht, dieses sanfte Lächeln hatte er über Wochen mehrmals
täglich unter der gestärkten weißen Haube ihrer Schwesterntracht hervorleuchten
sehen.
»Ja richtig«, sagte er und musste sich bemühen, nicht erfreut zu
klingen. »Schwester Veneranda.«
Unausgesprochen schwang die Frage mit, wie ihr Weg seither gewesen
war. Doch das konnte ihm gleichgültig sein. Ausschließlich die überhöhte
Monatsrechnung interessierte ihn. Nicht die verkorkste Laufbahn einer
Ordensschwester.
»Ich musste hierher in die Stadt zurück«, erklärte sie unvermittelt.
Ihre Finger umklammerten die Tischkante.
»Meine Familie hätte es sonst nicht verstanden.«
Ihre Hände ließen den Tisch los und suchten aneinander Halt. Als sie
keinen fanden, sanken sie auf die Oberschenkel. Ruckartig fuhren sie von dort
wieder in die Höhe, als wäre die Wärme des Fleisches etwas Unreines, und
suchten Trost an den geschliffenen Kanten des Tischleins.
Die Unruh suchte seinen Blick.
»Meine Mutter war sehr verwirrt«, fuhr sie fort. »Vor ein paar Jahren
wusste man über die Alzheimer’sche Krankheit noch nicht so deutlich Bescheid.
Ich entschloss mich, meine Mutter zu pflegen. Niemand sonst in der Familie wäre
dazu in der Lage gewesen. Die lange Abwesenheit von den klösterlichen Ritualen
führte in der Folge zwangsläufig zu einem Ausscheiden aus dem Orden. Zu einem
Ausschluss, wenn man’s genau nimmt. Als Mutter schließlich starb, pflegte ich
meinen Vater bis zu dessen Tod.«
Klar, die Schwester von damals. Ihre Stimme führte ihn in die Vergangenheit
zurück. Wieso erzählte sie ihm das alles? Er beugte sich vor.
»Bald darauf las ich in der Zeitung die Ausschreibung für diese
Stelle als Heimleiterin. Ich hab mich beworben und unter neunundzwanzig Frauen
und drei Männern das Rennen gemacht. Und jetzt bin ich eben wieder die Barbara
Unruh.«
Traurigkeit schwang in ihrer Stimme mit. Ottakring wollte nicht
weiter darauf eingehen.
In der nächsten Viertelstunde stellte sich heraus, dass die Monatsrechnung
beinahe korrekt war.
Nur Gretl Ottakring, seine Mutter, war falsch.
Sie ließ niemanden an sich heran. Weder zum Waschen noch zum
Blumengießen noch zum Zähneputzen. Sie bestand darauf, eine selbstständige Frau
zu sein, und niemand vermochte sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Dass die nicht geleisteten Verrichtungen berechnet worden waren, sei
ein unbeabsichtigter Fehler im System gewesen. Der Computer habe wieder einmal
eigenmächtig gehandelt.
»Es ist zum Verzweifeln mit Ihrer Mutter«, schloss Barbara Unruh mit
schmerzlicher Miene. »Es gibt nur eine Einzige, die noch renitenter ist …«
Ohne es zu wollen, vergaß Ottakring in diesem Augenblick seine
reservierte Haltung. »Die Moserin«, rief er prompt.
Und schloss eine Frage an, die ihn seit Tagen bewegte: »Ist die
Moserin eine Mörderin, Frau Unruh? Was meinen Sie, Schwester Veneranda?«
***
»Didididididaadaadaa!«
Die Sissi folgte dem Pfeiferl aufs Wort. Die zwei schlenderten wieder
einmal Richtung Wald, während die Resi mit der Herstellung von
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