Grabmoosalm (German Edition)
Sie war die einzige Frau gewesen,
bei der er jemals an eine Heirat gedacht hatte. Augen, die wie schwarzer
Turmalin funkelten. Fast ein halbes Jahr hatten sie zusammengelebt, bevor
Claire es sich anders überlegte und auszog. Ein paarmal hatten sie sich noch
getroffen, dann verflogen Liebe und Beziehung. Er hatte sie danach niemals
wiedergesehen, nicht mehr telefoniert und nicht geschrieben.
Rico gelang es mühsam, einen tiefen Seufzer zu unterdrücken.
»Ist was?«, fragte Esther ihn.
Ohne dass es eine auffordernde Geste war, legte sie ihm eine Hand
auf den Unterarm. »Erinnere ich Sie an jemanden?«
Sie sprach ein akzentfreies Deutsch.
Er streifte die Hand ab. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte er.
Er konnte nicht verhindern, dass sich seine Wangen bis hinter die
Ohren röteten.
»Im Übrigen«, fuhr er nach einer Weile fort. »Lenken Sie nicht ab.
Sie können die Aussage verweigern, wenn Sie damit sich selbst oder Ihre
Angehörigen belasten.«
Er räusperte sich und vermied es, ihr in die Augen zu schauen.
»Wollen Sie trotzdem aussagen?«
»Ja, ich will!«, antwortete sie mit fester Stimme.
Wie vor dem Traualtar.
Überhaupt war Rico erstaunt über die Ruhe und Gelassenheit, die
diese junge Frau so kurz nach dem Mord an ihrer Schwester ausstrahlte.
»Ich bin mit zehn Jahren nach Bayern gekommen«, erklärte sie auf
Ricos Frage. »Meine Leistungsfächer in der Abiturklasse waren Deutsch und
Geschichte. In Deutsch schwankte ich immer zwischen einer Eins und einer Zwei.«
Mit einem Wink schickte Rico den Dolmetscher weg. Er war
überflüssig. Auch bei der Kripo wurde gespart, wo immer es ging.
»Sie wohnen also bei Ihrem Onkel«, begann Rico die Befragung.
»Erzählen Sie ein bisschen mehr drüber.« Er biss sich auf die Lippen und setzte
»Bitte« hinzu.
»Ja, ich wohne bei Onkel und Tante. Mein Onkel ist krank, und die
Tante muss arbeiten gehen. Ich passe dann während des Tages auf die Kinder
auf.«
»Wie viele Kinder?«
»Sechs Kinder. Von eineinhalb bis zwölf. Alle minderjährig, würden
Sie sagen.«
»Und an den Wochenenden? Arbeitet die Tante da auch?«
»Nein. Da gehe ich wieder zurück in die Adlerstraße.«
»Zu Ihrem Vater also. Und wohnen dann auch mit Ihrer Schwester
zusammen«, stellte Rico fest.
»Dort haben Sie bisher mit ihr zusammengewohnt«, verbesserte er
sich. »Dann müssen Sie Ihre Schwester doch auch recht gut kennen? Und eine
Menge von ihr wissen? Erzählen Sie mir ein bisschen von ihr.«
Esther lehnte sich zurück und lächelte. Sie lächelte wie jemand, der
sich auf etwas freut. Auf einen Kinofilm, auf ein neues Auto, ein Treffen mit
dem Freund oder der Freundin.
Esther schien sich auf ihre Aussage zu freuen.
Draußen ging ein schweres Gewitter nieder. Es verfinsterte das ganze
Stadtviertel um das Präsidium so stark, dass man meinen konnte, es würde Nacht.
Rico war aufgestanden und hatte sich ans Fenster gestellt. Er wollte
der Zeugin Zeit geben.
Eine Polizeibeamtin in Uniform stapfte drunten eilig über die Straße
und beeilte sich, ins Haus und damit ins Trockene zu kommen.
Auch im Vernehmungszimmer war es so dunkel geworden, dass er das
Licht anschalten musste. Er spürte, dass sich Schweißtropfen auf seiner Stirn
gebildet hatten. Er griff mit der flachen Hand hin und wischte sie weg.
»Ähäm«, räusperte sich die junge Frau hinter ihm.
Rico holte ein Papiertaschentuch und wischte die Hand trocken.
Ein lang anhaltender Donner rollte gegen das Gebäude, von seinem
Echo vielfach umwittert.
Rico überlegte, wo Claire sich wohl aufhielt. War sie glücklich? Er
wünschte es ihr.
Als der Krach versickert und es wieder still war, war Esther neben
ihn gehuscht und hatte sich an ihn geschmiegt. Sie schien in die Kuhle seiner
Achsel schlüpfen zu wollen.
Wie von der Hornisse gestochen, riss Rico sich los. Er klemmte sich
hinter den Vernehmungstisch.
Esther lächelte und setzte sich wortlos wieder davor.
»Meine Schwester? Gülsüm«, begann sie von selbst.
Sie setzte die Beine so übereinander, dass die wohlgeformten Oberschenkel
sichtbar wurden.
Rico wusste nicht, wohin er seinen Blick richten sollte. Er wählte
das Fenster, durch das noch immer Dunkles drang.
»Ich habe mich immer gut mit Gülsüm verstanden. Und bis zum Tod
ihres Mannes hat sie sich auch mehr oder weniger an die Regeln unserer Familie
gehalten. Doch nach seinem Freitod hat sie als Erstes ihren Geburtsnamen wieder
angenommen. Und in ihrem Verhalten wurde sie ziemlich
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