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Grabmoosalm (German Edition)

Grabmoosalm (German Edition)

Titel: Grabmoosalm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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frei.«
    »Freitod. Aha«, sagte Rico nachdenklich, den Blick auf einen Sportpokal
seitlich von Esther gerichtet. »Und was ist ein freies Verhalten?«
    Kurz vor Weihnachten im vergangenen Jahr hatte er eine E-Mail von
Claire erhalten. »Es geht mir gut. Ich bin glücklich«, oder so ähnlich. Ja, er
wünschte es ihr. Obwohl sie ihn verlassen hatte. Anfangs hatte er sie zum
Teufel gewünscht.
    »Angehörige der türkischen Gesellschaft sollen sich bitte schön an
unsere Regeln halten, so werden wir erzogen. Diese Grundsätze stammen zwar aus
Ostanatolien, aber die Familie richtet sich danach. Und da geht es einfach
nicht, dass man eine Beziehung mit einem Deutschen beginnt. Zumal der viel
älter ist und noch dazu verheiratet. Und Kinder hat.«
    Der Chef der Rosenheimer Mordkommission wurde extrem hellhörig.
    »Wie hieß der Herr?«, fragte er unnötigerweise. Denn er war sich
sicher, um wen es sich handeln musste.
    Die Bestätigung kam postwendend.
    »Er war ihr Chef in der Arbeit. Nach seiner Scheidung wolle er sie
heiraten, hatte er ihr versprochen. Der Mann kam an einem Sonntag sogar in
unsere Wohnung und sprach mit unserem Vater über Gülsüms Zukunft.«
    »Kennen Sie den Namen dieses Mannes?«
    »Ja freili. Franz Mühlhofer heißt der. Oder der Mühlhofer Franz, wie
sie hier in Oberbayern sagen. Er ist ein hohes Tier bei Colatol, wo Gülsüm
gearbeitet hat.«
    »Und? Was hat Ihr Vater zu der Sache gesagt?«
    Esther rutschte verlegen auf ihrem Stuhl hin und her.
    »Der war natürlich nicht begeistert. Selbst wenn er einverstanden
gewesen wäre – was ich nicht annehme –, wäre es gegen die Regeln
gewesen. Er als Familienoberhaupt hatte sich daran zu halten. Bedingungslos.«
    Rico erhielt ein immer klareres Bild.
    »Wie hat sich Ihr Onkel in der Angelegenheit verhalten? Sie haben
mit ihm ja mehr Zeit verbracht als mit Ihrem Vater.«
    »Mein Onkel weiß bis zum heutigen Tag nichts darüber.«
    »Das glaube ich Ihnen nicht.«
    Zum ersten Mal seit Minuten sprang sein Auge auf ihr Gesicht und
glitt in ihren offenen Blick.
    Er zuckte zurück.
    So hatte auch Claire ihn angesehen!
    »Es stimmt aber. Warum zucken sie zurück? Ich beiße nicht, obwohl
ich in Ihren Augen eine Halbwilde sein muss. Vater hat uns mehrfach gebeten,
meinem Onkel gegenüber Stillschweigen zu bewahren. Mein Onkel mag die Deutschen
nicht.«
    »Aha.« Es gab also jemanden auf Gottes großem Erdball, der die Deutschen
nicht mochte. »Wie war denn das Verhältnis Ihrer Schwester dem Onkel
gegenüber?«
    Wie ein Kind hielt sich Esther die Hand vor den Mund und kicherte.
    »Entschuldigen Sie, dass ich lache. Gülsüm hat den Onkel nie richtig
ernst genommen. Ich sagte ja, sie verhielt sich für türkische Verhältnisse
ziemlich frei. Es hat auch mir nicht gefallen, wie respektlos und frech sie
sich ihren älteren Familienangehörigen gegenüber verhielt.«
    Wieder wurde Rico hellhörig. Er stand auf, steckte die Hände in die
Hosentaschen und begann die junge Frau zu umkreisen.
    »Wie ist Ihre Aussage zu verstehen? Nennen Sie ein Beispiel.«
    Esther musste nicht lange überlegen.
    »Wenn der Onkel ihr etwas aufgetragen hat, kam sie seiner Bitte so
gut wie nie nach. Ein- oder zweimal wollte er sich von ihr Geld leihen. Das hat
sie mit Hohn und Spott abgelehnt. Immer wieder hat sie betont, dass sie die
ganze Familie blöd und altmodisch findet. Sie könne mit dieser Familie nicht
mehr zusammenleben. Gegen jeden aus der Familie war sie frech. Auch mich hat
sie als blöde Gans bezeichnet. Oder als kleines, dummes Huhn.«
    Esther hatte sich in Rage geredet. Rico begann zu begreifen, was
sich hinter diesen Familienverhältnissen verbarg.
    Von einer Sekunde auf die andere schlug Esther die Hände vors Gesicht
und begann hemmungslos zu weinen.
    »Ich kann nicht mehr, ich mag nicht mehr! Lassen Sie mich gehen!
Meine Schwester ist tot, und ich bin schuld!«
    Sie sank auf ihrem Stuhl zusammen.
    Die Polizistin, die an der Tür gewacht hatte, eilte herbei und legte
den Arm um sie.
    Auf ein Zeichen Ricos führte sie die junge Frau hinaus.
    Esthers Schultern zuckten.
    Genau so hatte Rico auch Claire in ihrer Trennungsphase erlebt. Er
mochte nicht daran denken, wurde aber von dieser jungen Türkin brutal an sie
erinnert.
    Nachdenklich folgte ihr sein Blick, bis sich die Tür hinter ihr
schloss. Was hatte er aus dem Gespräch erfahren? Er hatte einen tiefen Einblick
in die Familienverhältnisse der Hastemirs erhalten. Immer vorausgesetzt, dass
Esther nicht log

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