Grabmoosalm (German Edition)
Mädchen?
Doch im selben Augenblick war die Erscheinung wieder verschwunden.
Die Resi konnte nur den Kopf schütteln über so viele Wunder. Sprachlos stand
sie da und starrte eine Weile hinüber. Hinzugehen traute sie sich nicht. Dafür
hatte sie zu viel Respekt vor dem grauen Raubtier.
»Seppe, jetzt komm her«, rief sie dann. Sie strich eine dichte Locke
zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. »Und bring die Sissi mit!«
Das ungute Gefühl, das sie die ganze Zeit über schon gehabt hatte,
machte sich auf einmal rasend schnell breit und löste in ihr den Alarm aus. Ihr
Bub in Reichweite eines reißenden Wolfs. Und die Sissi war zu weich, um ihn zu
retten. Etwa eine Steinwurfweite weit. Sie musste es selbst tun.
Sie stellte die Vase auf den Boden und rannte los.
»Neiiiiiiin! Bleib stehen, Mama!«
Sie rannte, so schnell sie konnte. Sie musste ihrem Sohn das Leben
retten.
Dem Wolf sträubten sich die Haare. Er entblößte die gefährlichen
Zähne und machte seltsame Geräusche. Seine Augen glühten.
»Neiiin, Mama! Stehenbleiben! Der Wolf!«
Im Laufen beobachtete die Resi, wie sich eine kleine Hand im Nackenhaar
des Wolfs festkrallte. Sie meinte, ein feines Stimmchen zu hören.
Blödsinn, sagte sie sich. Alles Einbildung. Gibt’s nicht.
Doch das Raubtier fuhr die Zähne ein, senkte den Kopf und wandte
sich ab.
Sissi blieb an seiner Seite.
Die Resi stellte fest, dass der Wolf hinkte. Wahrscheinlich von dem
Kampf mit der Sissi an Mutters Todestag, musste sie automatisch denken.
Auch die Dogge hatte noch eine entzündete Wunde an der Seite.
Sie verlangsamte ihr Tempo, bis sie zehn Meter von der Gruppe
entfernt war, dann hielt sie schwer schnaufend an.
»Hi, Mam«, sagte der Seppe fröhlich. »Guad gmacht!«
Er rannte auf seine Mutter zu und schloss sie in die Arme.
Der Resi liefen die Tränen über die Wangen. Mit dem Ärmel ihres
Blümchenkleids wischte sie die Tränen weg.
Als sie sich umsah, war der Wolf mitsamt der Erscheinung
verschwunden.
In der Aufregung hatten sie die Vase im Wald vergessen. In
der Dämmerung gingen sie wieder hinaus, um sie zu holen.
»Wir beerdigen die Großmutter auf Rehwiesen«, sagte die Resi zum
Pfeiferl.
Der nickte und sagte: »Didaaadiditdaadaadaa.«
Kaum waren sie dem Wolfswald entkommen gewesen, waren ihm die Worte
wieder weggeblieben.
Die Tigerdogge folgte ihnen, als sie das Törchen zu Rehwiesen
öffneten und hineintraten.
»Da, nimm«, sagte die Resi und hielt dem Pfeiferl die Vase hin. »Und
verstreu sie auf der ganzen Fläche.«
Ihren ursprünglichen Plan, die Asche im Wald zu verteilen, hatte sie
aufgegeben. Die Tote wäre zu nah am Wolf dran gewesen.
»Daadaaaditditdit«, pfiff der Pfeiferl. Mit weit ausholenden Schwenkbewegungen
verstreute er die Asche auf dem Feld.
»Daadaaaditditdit!«
»Auf Wiedersehen, Großmutter«, sollte das wohl heißen.
Servus, pfüadi! Auf Wiedersehen.
Sie nahmen das leere Gefäß wieder auf und gingen heim. Ein leichter
Nieselregen fiel bis in die Nacht hinein über der Grabmoosalm. Dann verzogen
sich die Wolken.
Der nächste Tag würde besser werden.
FÜNF
Die Rosenheimer Kripo hatte ermitteln können, dass der
Ehemann der ermordeten Gülsüm Selbstmord begangen hatte und dass eine Schwester
existierte. Gestern hatte sie herausgefunden, dass diese Schwester bei ihrem
Onkel wohnte, der auch Gülsüms Onkel war.
Und heute hatte Rico Stahl einen Anhörungstermin mit dieser
Schwester.
Sie hieß Esther Hastemir und war neunzehn Jahre alt.
Rico saß einer außergewöhnlich hübschen jungen Türkin gegenüber.
Blauschwarzes langes Haar, nachtschwarze Augen, makelloser bronzefarbener Teint,
dezente Ohrringe – sie hätte in jeder Castingshow im Fernsehen auftreten
können. Das Piercing in der Nasenwand einer türkischen Frau zu sehen,
überraschte Rico.
Für den Fall, dass es Verständigungsschwierigkeiten geben sollte,
hatte er einen türkischen Dolmetscher mitgenommen, der sich im Hintergrund
hielt. Rico wollte vermeiden, gemachte Aussagen später relativieren zu müssen.
Rico trug wie immer Anzug und Krawatte und war nervös.
Nervös war er erst, seit er Esther gegenübersaß.
»Warum nesteln Sie dauernd an Ihrer Krawatte, Herr Kommissar?«,
machte sie ihn darauf aufmerksam.
Er selbst hätte es nicht gemerkt.
Diese Esther besaß eine verblüffende Ähnlichkeit mit Claire, einer
früheren Freundin. Südfranzösin, bei einem Starfriseur beschäftigt, zehn Jahre
älter als die junge Frau, die vor ihm saß.
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