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Grabmoosalm (German Edition)

Grabmoosalm (German Edition)

Titel: Grabmoosalm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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folgte dem Zubringer in die Innenstadt. Auf dem Weg zum Wohnstift
kaufte er sich eine auffällig rote Nelke, die kräftig duftete, und steckte sie
sich ins Knopfloch. Nach dem Mordgeschehen im Grandis war er darauf vorbereitet,
sich gegen mächtige Polizeisperren durchsetzen zu müssen, zumindest gegen ein
dürftiges Flatterband.
    Selbstverständlich war er betroffen vom gewaltsamen Tod der
Heimleiterin. Der Schwester Veneranda. Jeden Menschen macht ein Mord betroffen,
auch einen Mensch, der ein Leben lang mit Gewaltverbrechen zu tun hatte. Doch
Ottakring wollte sich zwingen, darüber hinwegzusehen, egal, was passierte.
Heute hatte er nur seine Mutter und ihr Schicksal ihm Sinn.
    Nichts spielte sich vor dem Grandis ab. Keinerlei Sperren hinderten
ihn am Betreten des Gebäudes. Wie immer standen die Stinkkübel draußen, wie
immer saß der Raubvogel am Empfang. Diesmal hörte er kein Avemariapurissima,
was ihn wunderte. Freundlich nickte er ihr zu und sprang wie ein Junger bemüht
die Treppe hinauf, umweht von seinem Glencheck-Sakko. Der Summer summte auf der
zweiten Etage, und er drückte die Tür auf.
    Die halbe Mannschaft war um diese Uhrzeit, kurz nach dem Mittagessen,
im Casino versammelt.
    Frau Lunau kaute an einer trockenen Semmel herum, Dr. Alfons
Mindler deklamierte ein Gedicht, Herr Stubenrauch polierte sein Instrument. Die
Moserin ragte düster und hager vor einem offen stehenden Fenster auf, von dem
aus sie auf den Innenhof sah. Gretl Ottakring saß vereinsamt in einer Ecke
zwischen Standuhr und einer Anrichte, auf der sich benutztes Geschirr stapelte.
Ihr dünnes Kleidchen war ihr übers Knie gerutscht, sie hatte die nackten Arme
um den Oberkörper geschlungen.
    Niemand schien ihn zu kennen oder je gesehen zu haben, als Ottakring
direkt auf seine Mutter zusteuerte. Wortlos nahm er sie an der Hand und zog sie
mit sich. Sie leistete keinen Widerstand. Wortlos nahm er in ihrem Zimmer ein
Wolljäckchen aus dem Schrank und hängte es ihr über die Schultern. Dann schob
er sie rückwärts in eines der beiden kleinen Sesselchen. Er zog das andere
heran, setzte sich ihr gegenüber und beugte sich vor.
    »Mama, wer bin ich?«, fragte er. Seine Stirn lag in Falten.
    Diese Frage hatte sich Joe Ottakring schon auf der Herfahrt
überlegt. Seine Mutter war immer eine intelligente Frau gewesen. Sie konnte mit
Zahlen jonglieren wie keine andere, hatte handwerkliches Geschick, drückte sich
kultiviert aus, war im Mittelpunkt vieler Diskussionen gestanden.
    Im Mittelpunkt. Das war das Problem, das er stets mit ihr gehabt
hatte. Sie wollte immer und überall im Mittelpunkt stehen und sah sich als den
Nabel der Welt. Er konnte sich an kein gutes Wort von ihr erinnern, kein Lob,
keinen Ansporn, kein Mitleid.
    Als Lola und er sich für einige Zeit getrennt hatten, in der Absicht
auseinanderzugehen, war ihr Kommentar gewesen: »Ich hab die Frau sowieso nie
gemocht. Ist besser für dich.«
    Er hatte damals gewusst, dass noch ein Nachsatz fehlte. Und der war
dann auch unverzüglich gekommen.
    »Und für mich.«
    Diese Szene hatte sich ihm besonders eingeprägt.
    Und nun saß er ihr gegenüber, beinahe Stirn an Stirn, denn auch sie
hatte sich mit den Ellenbogen auf die knochigen Knie gestützt und sah ihn an.
Seine despotische Mutter – klein, zierlich, piepsig.
    Er war sehr gespannt auf ihre Antwort. Nach allem, was in der
Broschüre stand, musste eine an Alzheimer erkrankte Person sich nicht
durchgehend auf dem Tiefpunkt befinden.
    »Wer bin ich?«
    Würde sie ihn heute erkennen oder nicht?
    Konnte sie eine Mörderin sein oder nicht?
    »Sie sind mein Sohn«, sagte sie leise. »Was führt Sie zu mir?«
    O mein Gott! Sie erkennt mich, wahrt aber den Abstand, den sie
ihr ganzes Leben von mir hielt. Jetzt, wo sie alt ist, zeigt es sich deutlich.
    »Mama, erkennst du mich wirklich? Weißt du denn, wie ich heiße?«
    »Ich mache nur gelegentlich Fehler«, sagte sie. »Du bist Josef.« Sie
rückte ein wenig näher an ihn heran und blinzelte listig mit einem Auge, wie in
eine Kamera.
    »Natürlich, du bist der Josef.«
    Ottakring nahm ihre Hände in seine. Seine Mutter war reif für den
Test.
    Er zog die Nelke aus dem Knopfloch und hielt sie ihr hin. »Hier. Für
dich, Mama.«
    Gretl Ottakring griff danach. Neugierig zog sie die Augenbrauen
hoch, gleichzeitig rümpfte sie die Nase. Sie nahm die Nelke in die Hand wie
etwas Unangenehmes, Unbekanntes. Nicht wie eine Mutter, der man eine Blume
überreicht.
    Zuerst spreizte sie die

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