Grabmoosalm (German Edition)
auf.
»Ich bin Josef, Mama, dein Sohn«, sagte er. »Ich bin hier, um dir zu
helfen.«
Wieder legte er das offene Messer auf die ausgestreckte Hand,
diesmal etwas vorsichtiger.
»Ach was, helfen, papperlapapp. Wobei willst du mir …?«
Ihr Blick fiel auf das Messer in Ottakrings Hand. Sie erstarrte.
Selten hatte Joe Ottakring seine Mutter so erlebt. Als wenn sich ihr
Inneres nach außen stülpte. Als sie sprach, klang es, als ob ein anderer aus
ihr spräche.
»Ein Messer, du Depp! Damit kann man böse Dinge anrichten. Kehlen
schneiden. Wölfe töten. Ganz schlimme Dinge!«
Im selben Augenblick schoss ihre rechte Hand nach vorn, auf das
Messer zu, die Finger zu einer spitzen Kralle geformt.
Gerade noch rechtzeitig zog Ottakring die Hand zurück.
Seine Mutter sprang auf. Diese Kraft und Elastizität hätte er ihr
nicht im Entferntesten zugetraut.
»Töten!«, schrie sie.
Wie im Torjubel beim Fußballspiel hatte sie die Hände hochgerissen.
»Kehle schneiden!«, schrie sie, immer noch mit dieser fremden, männlich
klingenden Stimme. »Mit dem Messer Kehle schneiden!«
Die Tür flog auf und knallte gegen die Wand.
Herr Adlmayer stand mit nacktem, über und über behaartem Oberkörper
im Türrahmen. Sein Glatzkopf endete zwei Zentimeter unterhalb des oberen
Querbalkens, die geballten Fäuste hingen neben der Kniekehle.
»Wer will hier Kehle schneiden?«, brüllte er und bewegte sich auf
Ottakring zu.
Hinter ihm füllte sich die offene Tür mit Schaulustigen. Frau Michalke,
Pauline, Herr Stubenrauch. Dr. Mindler und die Moserin fehlten.
Ottakring wich zurück.
»Was tun Sie der Gretl an?«, herrschte Adlmayer ihn an. »Lassen Sie
die Gretl in Ruh!«
Wenn das so weiterging … Er warf einen flüchtigen Blick auf
seine Mutter. Sie hatte sich wieder hingesetzt und starrte verwirrt auf Herrn
Adlmayer. Ihre letzten Worte beschäftigten ihn mehr als der Koloss, der sich
vor ihm aufgebaut hatte. War es Zufall, dass sie von der Todesart gesprochen
hatte, durch die die Heimleiterin umgekommen war? Man hatte ihr die Kehle
durchgeschnitten, und seine Mutter wusste offenbar Bescheid.
Doch zunächst musste er den Catcher abschütteln.
»Halten Sie sich da raus«, sagte Ottakring leise zu ihm.
Ohne Vorwarnung stürzte sich Adlmayer auf ihn. Es steckte eine Menge
Energie hinter der Attacke.
Ottakring versuchte auszuweichen, trat aber seiner Mutter auf den
Fuß.
Sie schrie auf vor Schmerz.
Adlmayer versuchte, den Arm um seinen Nacken zu schlingen und ihn in
den Schwitzkasten zu nehmen.
Ottakring duckte sich, fuhr mit dem Arm nach oben und drückte zwei
Finger in die Augen des Riesen, während er ihm die Spitze seines Knies in die
Kniekehle stieß.
Mit einem kurzen Aufschrei krachte der Mann zu Boden.
»Was machen Sie da?«, flötete Gretl Ottakring. »Hört auf mit dem
Lärm.«
Sie hielt sich beide Ohren zu.
»Aufhören!«, brüllte eine andere Stimme.
Der Türrahmen hatte sich schlagartig geleert, das Publikum war
verschwunden.
Wie Erzengel Gabriel mit dem Schwert stand Schwester Clara in der
Tür.
»Aufhören, Herr Adlmayer!«
Mühsam rappelte sich Adlmayer hoch. Er schnaufte und war bis über
die Glatze hochrot.
War es Angst, was in seinen Augen glimmte?
Adlmayer betrachtete Schwester Clara mit ungläubigem Staunen.
»Ja, ich wollte doch nur …«, stammelte der bullige Mann.
Verlegen senkte er den Blick und strich sich die Brusthaare glatt.
»Ja ja, ich weiß schon, Herr Adlmayer. Sie wollten nur helfen. Aber
Sie haben schon genug angerichtet. Also, gehmer, gehmer!«
An den Ohren zog sie ihn nach draußen, warf Gretl Ottakring und
ihrem Sohn einen freundlichen Blick zu und schloss die Tür.
Alles hätte Ottakring erwartet, nur nicht, dass die zaundürre, unscheinbare
Schwester Clara mit einem Mordskerl wie dem Adlmayer so einfach fertigwurde. Es
war eine neue Erkenntnis.
Noch etwas anderes hatte ihn aufhorchen lassen.
»Sie haben genug angerichtet.«
Was meinte sie damit? Hatte sie etwas gegen ihn in der Hand? War
vielleicht er es, der seine Mutter aus dem Fenster …? Spielend hätte er
das tun können. Oder hatte er etwa bei dem Mord an der Unruh die Finger im
Spiel? Die nächsten Tage versprachen spannend zu werden.
Die Moserin nebenan rieb sich die Hände. Sie saß in dem
hölzernen Schaukelstuhl, der aus dem Inventar der Grabmoosalm stammte und den
sie ihr von daheim mitgegeben hatten. Sie schaukelte und hatte die Tür halb
offen stehen. Sie hatte alles mitbekommen.
Sie war es
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