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Grabmoosalm (German Edition)

Grabmoosalm (German Edition)

Titel: Grabmoosalm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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Finger und nahm mit der gestreckten Hand Maß
an der Blume.
    »Etwa zwanzig Zentimeter lang«, stellte sie fest. »Ein rotes, rundes
Gebilde, das in sich selbst gefaltet ist.« Sie drehte die Blume in den
Fingerspitzen. »Mit einem geraden grünen Anhängsel.«
    Geistig rege jedenfalls, dachte Ottakring.
    »Und was meinst du, was es ist, Mama?«, fragte er fast belustigt.
    Sie überlegte. Wiegte den Kopf.
    »Schwer zu sagen«, antwortete sie. Sie schien verwirrt. »Hier fehlt
eine einfache Symmetrie. Wie bei einem Würfel. Oder einem Ball. Oder …«
    Sie sprang plötzlich auf, holte aus und ließ die geschlossene kleine
Faust auf den Tisch neben ihnen herabsausen.
    »Oder wie bei diesem Tisch hier, Himmelherrgottsakrament.«
    Ottakring war mit aufgesprungen. Er befürchtete das Schlimmste.
    Doch seine Mutter setzte sich gelassen wieder hin, als ob nichts
gewesen wäre.
    »Sehen Sie«, sagte sie dann. »Es könnte eine eigene höhere Symmetrie
besitzen.«
    »Und?«, hakte er nach. »Welche zum Beispiel? Mama? Mutter?«
    »Ach. Es könnte … ich glaube, es könnte so etwas wie eine Blume
sein. Ja, eine Blume. Oder eine Blüte.«
    Dann vollzog sich etwas Eigenartiges.
    Ihr Gesicht zerrann. Ja, es zerfloss förmlich vor seinen Augen und
wurde durchsichtig. Einzig ihre Augen blieben übrig. Sie waren unnatürlich groß
und dunkel.
    »Eine rote Blüte!«, schrie sie hinaus. »Sagen Sie mir, Josef, gibt es
rote Blüten? So wie es rote Kühe gibt?«
    »Beruhige dich, Mama.« Er legte die Hände auf ihre Schultern und
ließ sie eine Weile dort ruhen.
    Ihr Gesicht nahm wieder Gestalt an.
    »Du hast gesagt, es könnte eine Blüte sein. Könnte?«
    Sie nickte. Nichts an ihr deutete auf die vorherige Unruhe hin.
    »Könnte sein«, sagte sie. »Eine Blüte.«
    »Riech doch einmal daran«, sagte er. Er nahm ihre Hand mit der Nelke
darin und führte sie an ihre Nase.
    Schlagartig hellte sich ihr Gesicht auf. »Herrlich!«, rief sie aus.
»Eine Nelke. Welch ein erheiternder Duft. Wie frisch aus dem Garten.«
    Sie begann zu summen. Tränen sammelten sich hinter ihren Lidern.
Noch nie hatte Josef Ottakring seine Mutter eine Träne vergießen sehen.
    Während Gretl Ottakring mit nassen Augen die herrlich duftende Nelke
an ihre Brust presste, beschloss ihr Sohn, ein weiteres Experiment zu wagen.
    Seine Mutter hatte immer gern Hüte getragen. Er ging an ihren
Schrank und holte zwischen den fünf anderen einen heraus, den sie bestimmt
lange nicht benutzt hatte. Einen Trachtenhut. Ein grüner Velourshut mit
künstlicher Spielhahnfeder. Daran müsste sie sich erinnern können.
    Er nahm wieder Platz und legte den Hut vor sich auf die Knie.
    »Was ist das?«, fragte er.
    Durch die geschlossene Tür hörte er den Catcher Adlmayer, der unter
ziemlichem Gebrüll jemanden maßregelte.
    »Ich werd den Würger ansetzen, wenn du nicht parierst!«
    Ottakring hatte in kurzer Zeit die Marotten aller Heimbewohner
kennengelernt. Er blieb gelassen.
    »Darf ich das mal sehen?«, bat seine Mutter mit zartem Stimmchen.
    Sie untersuchte den grünen Hut ebenso eingehend wie zuvor die rote
Nelke. Mit der flachen Hand strich sie über die raue Oberfläche, blieb an der
herausstehenden Feder hängen, untersuchte den Rand und schließlich die
Innenseite. Dann kam sie zu einem Ergebnis.
    »Eine durchgehende Oberfläche«, sagte sie, »die unten eine Höhle
bildet. Und oben ist wieder ein Anhängsel. Diesmal mit Haaren.«
    Als wenn eine Blinde spräche, dachte er. Versonnen rieb er an der
glatten Kante des Sessels, auf dem er saß.
    »Also ein Hut«, knurrte er dann ungeduldig.
    Gretl Ottakring schnellte empor. »Hut! Ja, Hut«, rief sie voller
Entzücken.
    Doch dies war für ihn schon längst wieder ein alter Hut. Er hatte
Kühneres vor.
    Seine verstorbene Tante Sophie hatte ihm vor Jahren einmal ein
Taschenmesser geschenkt. Nichts Alltägliches, denn das Messer war von
Griffschalen aus Elfenbein ummantelt und lag wunderbar leicht, beinahe herzlich
in der Hand. Dieses Messer holte er aus der Jackentasche, öffnete es und legte
es mit der Breitseite der Klinge auf die flache Handfläche.
    »Was ist das?«
    »Also, Sie nerven mich langsam mit Ihrem dummen Gefrage«, bemerkte
seine Mutter.
    Sie zupfte ihren Rock zurecht, sodass er die Knie bedeckte, und strich
ihn glatt.
    »Was soll das? Síe zeigen mir die einfachsten Dinge und fragen mich
darüber aus.«
    Sie reckte den Hals und spuckte vor ihm aus.
    Ottakring zuckte zurück. Das Messer fiel zu Boden. Er hob es

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