Grabmoosalm (German Edition)
ihrer Mutter gegangen wäre.
»Nein, Cilly, du bist die Älteste. Du übernimmst die Alm.«
»Wenn i aber ned mog?«
Dann hatten sich beide angeschaut, die Mam und ihre aufsässige
Tochter, und die Mutter hatte den Kopf geschüttelt. »Du tust, was ich dir sag.«
Am nächsten Tag war sie weg gewesen. Abgehauen. Verschwunden.
Sie ließ den Kontakt zur Heimat abbrechen. Setzte sich ins Ausland
ab, wo sie ihre Erfolge feierte.
Ihre Mutter erfuhr davon nichts. Natürlich war der Name Cilly Moser
ab und zu auch im Feuilleton der »Süddeutschen« zu finden. Doch auf der
Grabmoosalm gab’s keine Süddeutsche und selbst wenn – niemand hätte je den
Kulturteil aufgeschlagen.
Nur zwei Freunde von damals wussten Bescheid. Sie hatten Cilly in
die Hand versprechen müssen, dass sie ihr Geheimnis strikt für sich behielten.
Das taten sie. Diese Freunde waren es auch, über die sie erfuhr, dass ihre
nächstjüngere Schwester, die Eugenie, die Alm übernommen hatte.
Na gut, ihr sollte es recht sein.
Cilly Moser spielte klassische Rollen am Theater, am liebsten aber
war ihr die Komödie. Cilly war groß und schlank und verfügte über eine
ausdrucksstarke Mimik. Die Fähigkeit zur Improvisation und ihre
Schlagfertigkeit taten ein Übriges, um sie überaus beliebt zu machen.
Die Männerwelt lag ihr zu Füßen. Sie hätte einfach zuzugreifen
brauchen. Doch Cilly Moser war zurückhaltend. Zwar wechselte sie die Liebhaber,
doch nicht sehr häufig.
Als Jahre später die Eugenie beim Rückwärtsfahren mit dem Traktor
einen Hang hinunterstürzte und sich das Genick brach, durfte die große
Schwester dem Ruf der Mutter nicht länger widerstehen.
Ausschlaggebend für ihre positive Entscheidung war jedoch ihr
Töchterchen, die Annemirl. Als Schauspielerin bist du nur dürftig in der Lage,
alleinerziehende Mutter zu spielen.
Jeden Abend eine Aufführung, tagsüber die Proben und andere Pflichten.
Ständig das Kind und die Sorge um das Kind im Schlepptau.
Sodass die Vorstellung, die kleine Annemirl auf der Grabmoosalm
aufwachsen zu lassen, zunächst nicht abwegig war und mit der Zeit immer
attraktiver wurde.
Die Annemirl war damals elf, Cilly Moser Ende dreißig, als sie dem
Druck ihrer Mutter und ein bisschen der eigenen Überzeugung nachgab. Sie
übernahm die Grabmoosalm und wurde damit zur »Moserin«. Die Tradition wurde
gewahrt, der Betrieb ging nicht in andere Hände.
Doch sie lebte weiter in ihrer eigenen Tradition. Sie verfolgte das
Theatergeschehen in Wien und in Zürich. Die Schauspielerei wollte sie nicht
aufgeben.
Manche Gäste schätzten es, manche weniger, wenn plötzlich vor ihren
Augen die Moserin, mit vier Maßkrügen in den Händen, einen stummen Schrei
intonierte. Oder verkleidet als zerfurchte Hexe durch den Biergarten humpelte.
Sie ließ sich nicht beirren. Auf Sparflamme ließ sich die geliebte
Schauspielerei auch in ihrer neuen Rolle beibehalten.
Niemand erfuhr je ein Sterbenswörtchen darüber, dass die Moserin von
der Grabmoosalm einst eine gefeierte Bühnenschauspielerin war. Darauf legte sie
Wert. Auch die beiden alten Freunde hatten dichtgehalten.
Die Mutter starb.
Das Geschäft florierte.
Die Annemirl kriegte ein Kind, die Resi.
Die Moserin mochte die Resi und schenkte ihr einen Hund.
Als der Hund starb, kriegte auch die Resi ein Kind, den Seppe.
Auch ihn versorgte die Moserin mit einem Hund. Sie taufte ihn Sissi.
»Damit der Seppe ned so alloa is.«
Bis die Sache mit dem Alzheimer kam.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag um halb fünf in der Früh war
die Moserin leise aufgestanden. War aus ihrem Schlafzimmer geschlichen und
barfuß im Schlafanzug die Holztreppe hinuntergegangen. Die drittletzte Stufe
ließ sie aus, denn die quietschte seit Jahren. Unten ging sie an die Kommode,
in der sie ihre Arbeitsklamotten aufbewahrte. Sie zog sich über jeden Fuß zwei
Socken, denn sie wusste, dass es draußen saukalt war. Über den Schlafanzug
streifte sie ihre blaue Feldjacke, die sie immer zum Kartoffelklauben anzog.
Dann setzte sie die gestrickte Wollmütze vom Seppe auf, die passte wie
angegossen und hielt die Kälte ab.
Draußen war es ziemlich hell. So hell, wie es bei Halbmond in einer
sternklaren Winternacht ist.
In dieser Helligkeit schnappte sie sich ihr Fahrrad aus dem Stadel.
Zum Kartoffelklauben fuhr sie immer mit dem Fahrrad.
Ihre nackten Finger froren fast am blanken Stahl der Lenkstange
fest. Sie kramte in der Jackentasche und war froh, dass sie ein Paar
Arbeitshandschuhe fand.
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