Grabmoosalm (German Edition)
dem Hintergrund dieser Ermittlungsergebnisse lud Rico Stahl
Gülsüms Schwester Esther ins Präsidium vor.
Selbstbewusst saß sie ihm gegenüber.
Das Haar, der Teint, die Augen – alles erinnerte ihn an Claire.
Doch schnell streifte er diese Gedanken wieder ab.
»Sind Sie eigentlich echt?«, begann er in scharfem Ton. »Sind Sie
tatsächlich Gülsüms Schwester? Und ist Mehmet Ihr wirklicher Vater? Oder sind
Sie auch die Tochter seines Bruders Cem, so wie es Gülsüm war? Wenn ich Ihnen
irgendwie helfen kann, das herauszufinden …«
Er beendete den Satz nicht.
Sie schien zunächst unbeeindruckt. Drehte die Handflächen zur Decke
in einer Geste, die offenbar dazu gedacht war, ein reines Herz zu illustrieren.
Dann aber – als hätte sie so lange gebraucht, um zu begreifen –
wurden ihre schwarzen Augen größer und größer. Entsetzen stand ihr ins Gesicht
geschrieben.
»Sie … Sie wissen?«, stammelte sie.
Aha. Er hatte sie. Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Ja, ich weiß. Und ich weiß auch, wer Gülsüm getötet hat.«
Er stand auf und stand mit den Händen in den Hosentaschen vor ihr.
Blickte auf sie herab. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen. Aber er öffnete
den Mund und sprach langsam mit dem scharfen und gequetschten Ton eines
Scharfrichters: »Und ich weiß, dass Sie es auch wissen. Ganz sicher weiß ich es
sogar.«
Er beobachtete ihre Mimik. Ihre Haltung.
Die Neunzehnjährige fiel urplötzlich in sich zusammen.
»Und ich sage Ihnen noch eines: Sie haben die Tat beobachtet. Sie
waren dabei. Sie waren indirekt an dem Mord beteiligt. Das ist in Deutschland
strafbar.«
Esther beobachtete eine Fliege, die von der rechten Kante des
Lampenschirms zur linken flog. Dann erklärte sie hastig: »Ich bin nicht
vorbestraft …«
Rico ging sofort darauf ein. »Und das soll auch so bleiben.«
Esther rang mit den Händen. Ihre Miene sprach Bände.
»Wenn Sie allerdings lediglich beim Abtransport der Leiche
zugeschaut oder sogar mitgemacht haben sollten, ist das nicht strafbar. Paragraph
zwo fünf acht Es-te-ge-be, Absatz sechs. Strafvereitelung gegenüber Angehörigen
wird nicht strafrechtlich verfolgt.«
Rico hatte sich halb auf die Kante des Tischs gesetzt und kratzte
sich lautstark am Kopf.
»Diese Straffreiheit gilt natürlich nur dann, wenn Sie auch die
Wahrheit sagen«, schwindelte er. »Wenn Sie mir beispielsweise erklären, wer die
Leiche in den Teppich gewickelt und sie abtransportiert hat.« Er machte eine
kurze Pause. »Also?«
Schweigend und blass starrte sie ihn an. In ihrem Gehirn rührte sich
rein gar nichts, das war erkennbar. Also musste er ihr auf die Sprünge helfen.
Sie öffnete die Lippen, doch Rico erkannte sofort, dass sie nicht
die Wahrheit sagen würde.
Das wollte er vermeiden und ging in die Offensive.
»Ich will Ihnen sagen, wie es geschehen ist«, sagte er. »Mehmet Hastemir,
Gülsüms leiblicher Onkel nämlich, hat Ihre Schwester getötet. Und zwar ziemlich
bestialisch. ›Blutrausch‹ sagen wir dazu. Als offizieller Vater meinte er, die
Ehre der Familie retten zu müssen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob die Tat
vorher abgesprochen worden war oder nicht. Cem, Gülsüms wirklicher Vater, hat
dem Bruder geholfen, die Leiche zu verpacken. Und Hakan Oben, der Mann von
Gülsüms Freundin, hat den Kombi gefahren, mit dem der Leichnam zum Parkplatz
der Papierfabrik gebracht wurde.«
Ausdruckslos hielt Esther den Blick auf Rico gerichtet.
Im gleichen Moment öffnete sich die Tür einen Spalt, Chili bedeutete
Rico zu kommen.
Er schritt zwei Meter rückwärts, Esther dabei ständig im Blickfeld
haltend.
Chili flüsterte ihm etwas zu, und als er die Tür wieder schloss,
lächelte er zufrieden.
Doch das Lächeln wurde ihm buchstäblich aus dem Gesicht gerissen.
Aus dem Nichts kam eine Ohrfeige und traf Rico Stahl hart auf die
linke Wange. Er war so überrascht, dass er einen Abwehrschritt rückwärts
machte, strauchelte und beinahe zu Boden gefallen wäre.
»Was werfen Sie mir vor?«, schrie die junge Frau vollkommen außer
sich. Unter dem dunklen Teint staute sich das Blut. »Ich bin nicht vorbestraft.
Und ich will nicht bestraft werden, nur weil Sie ein Opfer brauchen!«
Ricos erster Reflex war gewesen zurückzuschlagen. Doch er beherrschte
sich. Mit seiner brennenden Backe stand er vor ihr und schwankte zwischen Wut
und Verblüffung. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter. Nein, Chili
hatte den Vorfall nicht mitbekommen.
Er war geschockt über
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