Gral-Zyklus 1 - Die Kinder des Gral
Schloßhof von Montségur versammelten sich Verteidiger und Schutzbefohlene um ihren Bischof Bertran en-Marti. Alle Katharer waren fes t lich gekleidet, viele verschenkten ihre Habe an die Sold a ten der Garnison, als Dank für die aufopfernde Verteid i gung – auch, weil sie keines irdischen Besitzes mehr b e durften. Die ›Reinen‹ hatten mit ihrem diesseitigen L e ben abgeschlossen.
Zwei lange Wochen hatten Bertran en-Marti zur Verf ü gung gestanden, um die Gläubigen auf den letzten Schritt vorzubereiten. Sie hatten das consolamentum erhalten. Jetzt konnten sie das Fest zusammen begehen, das nu n mehr, lange ersehnt, anstand: die gemeinsame Feier der maxima constellatio. Die Freude au f d ieses Ereignis, E r gebnis einer spirituellen Präparation ohnegleichen, übe r strahlte alles, was danach noch kommen mochte, auf der letzten, noch zu durchleidenden Wegstrecke vor dem Eingang ins Paradies.
Zwei der zu diesem Gange Vorbereiteten mußte en-Marti allerdings von der Teilnahme ausnehmen: die beiden parfaits waren auserwählt, sich und vor allem bestimmte Gegenstände und Dokumente in Sicherheit zu bringen, und zwar jetzt, sofort!
Die Belagerer waren der Meinung, inzwischen alle B e wegungen aus und in den Montségur unter Kontrolle zu haben, doch die Sturmtruppen, insbesondere die Monta g nards und Durands Katapulteure hatten sich nie getraut, den zerklüfteten und dicht bewachsenen Höhenrücken, der sich ostwärts der Festung, vorbei an der Barbacane, dem Pas de Trébuchet bis zum Roc de la Tour hinzog, wirklich zu besetzen. Sie hockten am Rande der Klippen, die ihnen Schutz vor den weitreichenden Bolzen der Katalanen b o ten, und dachten gar nicht daran, das unheiml i che Gelände, aus dem bisher kein einziger Späher z u rückgekommen war, auf seine geheimen Pfade hin zu untersuchen. Es hieß, sie führten von der Burg aus direkt in Höhlen und Öffnungen in den steil abfallenden Wä n den des Pog, also unter ihren Füßen hindurch.
Da der Mond hell schien, wurden die Auserwählten durch die dunklen Gänge geführt, oft hörten sie über i h ren Köpfen die Stimmen der anderen. In einer Grotte, die sich am Ausgang zum unsichtbaren Spalt verengte, wu r den sie samt dem kostbaren Gut in weiße Laken gehüllt, verschnürt und an langen Tauen auf der nur schwer bewachbaren Os t seite über die Klippen zur Lasset-Schlucht abgeseilt. Das Tosen des Flusses übertönte jegliches Geräusch. Den Ei n gang zu diesem Felseinschnitt riegelten des Nachts die Templer unter Montbard de Bethune ab.
Unten erwartete sie ein Trägertrupp, der Lastesel bere i thielt. Gerade als die bergsteigerisch erfahrenen bask i schen Söldner die Seile wieder hochziehen wollten, tauchten aus dem Dunkel der gischtübersprühten Klamm zwei Ritter auf.
Sie waren vermummt, ihre Brustpanzer wiesen keine Wappen auf, noch trugen sie Helmzier. Sie hatten das V i sier heruntergelassen und führten ihre Pferde am ku r zen Halfter.
Der eine von ihnen war von hünenhafter Statur; sein Topfhelm, sein Kettenhemd entsprachen der deutschen Machart. Sein Begleiter war schlank, und seine Rüstung war kostbare Arbeit des Orients, wie man sie als Beute nur im Heiligen Land erringen konnte. Sie sprachen be i de kein Wort, sondern griffen stumm nach den herabhä n genden Seilen.
Die Fluchthelfer waren ratlos und eingeschüchtert ob der bloßen Schwerter in der Hand der Fremden. Da erschien oberhalb der Klamm ein Templer. Er nickte nur kurz sein Einverständnis und verschwand wieder.
Den Helfern drängte die Zeit. Sie hüllten die Ritter ha s tig in die freigewordenen Tücher, und die Basken zogen sie hinauf.
In der versteckten Grotte begrüßte sie mit gedämpfter Stimme der Schloßherr: »Ich befürchtete schon« – er umarmte den mächtigen Älteren –, »Ihr würdet nicht mehr kommen, Ritter des Kaisers – oder gar zu spät« – er umarmte den Jüngeren –, »Prinz von Selinunt.«
»Beides unbegründet«, lachte dieser und lüftete den z i selierten Gesichtsschutz, »wenn auch das letzte Wegstück sich nur für Schwindelfreie eignet!« Seine scharfgeschni t tenen Züge, sein gutturaler Akzent verrieten den Landes fremden. »Helft dem Sigbert aus seiner Hülle!« Er wies auf seinen mächtigen Begleiter, der Schwieri g keiten hatte, sich aus seinem Laken zu befreien. »Als Seidenraupe ist er nicht zierlich genug!«
Der Angesprochene riß sich den Helm vom grauen Haupt. »Lieber einem Dutzend Feinde ins Auge g e schaut«, grummelte er, »als
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