Gral-Zyklus 1 - Die Kinder des Gral
beherrschen die Stunden zur Tagundnachtgle i che. Es knackte im Holz, und die Bäume rauschten, ob g leich kein Wind wehte. Plötzlieh vernahm ich Hufgetra m pel über mir. Durch einen schmalen Saumpfad, der sich wohl im verborgenen in die Höhe ziehen mußte, ritten zwei schneeweiße Gestalten; ihre Gesichter waren verhüllt. Etl i che Kobolde rannten neben den Mauleseln mit, keiner sprach ein Wort – schon war der Spuk vorbei.
Angesichts dessen war ich auf meine Knie gefallen und hatte mich in das niedere Gestrüpp des Waldbodens g e preßt. Ich brauchte nur noch zu beten. Da die Weißgekle i deten aus der Lasset-Schlucht gekommen waren, mußten sie zwangsläufig das Zeltlager der Templer pa s siert haben. Oder waren es Ritter des Ordens selbst g e wesen? Sollte ich Gavin danach fragen? Ängstlich wan d te ich mich um, dann richtete ich mich auf.
Durch die Baumstämme sah ich unter mir die Zelte der Templer. Wo sonst ein munteres Kommen und Gehen herrschte, war jetzt Stille eingezogen. Eine lange Tafel war vor dem Zelt Gavins aufgebaut. Sie war mit weißem Li n nen gedeckt. Darauf standen drei silberne siebenarm i ge Leuchter. Am Kopfende lag ein Totenschädel auf dem Tuch. Das flackernde Kerzenlicht ließ sein e d unklen A u genhöhlen leben; er warf mir schreckliche Blicke zu. Ich wagte kaum noch einmal hinunterzuschauen. Ihm gegen ü ber stand Gavin, und vor ihm lag ein aufgeschlagenes Buch.
Je fünf ältere Ritter flankierten die Tafel. Alle schienen sie zu warten, wenn auch keine Geste der Ungeduld es ve r riet. Dann öffnete sich hinter ihnen das Zelt, und de r selbe schöne Tempelritter mit den mädchenhaften Zügen, den ich zuvor bei der schwarzverschleierten Sänfte gesehen, gele i tete am Arm eine weißgekleidete Gestalt. Von ihren Zügen konnte ich rein gar nichts erkennen, denn der Kopf war von einer spitz zulaufenden Haube bedeckt, deren Tuch über das Gesicht bis zur Schulter fiel und nur zwei Augenschli t ze freiließ. Sie bewegte sich langsam und mit Würde und trug auf beiden Händen einen so kostbaren Abakus, wie ich ihn noch nie erschaut. Der Schaft war wohl aus massivem Gold. Ein doppelter Schlangenleib ringelte sich – der eine elfenbeinern, der andere aus Ebenholz – um den Stab, de s sen beide Enden in einen Adlerkopf ausliefen, welcher das eine Haupt der Schlange mit seinem Schnabel zerbiß, wä h rend das and e re ihm ins Genick stieß. Der junge Templer führte den Vermummten zur Stirnseite der Tafel, wo dieser den Abakus feierlich niederlegte. Der Schöne entfernte sich. Noch immer war kein Laut zu hören.
Obgleich ich so weit von dem Schauspiel entfernt im Gesträuch kauerte, brannte sich das Bild in meinen Sinn, als würde mir allein der Abakus flammenzüngelnd g e zeigt. Lebend wanden sich die verflochtenen Leiber der Schla n gen – war es die weiße, war es die schwarze, die tückisch zubiß, oder erlitten beide beides?
»Der Stein«, riß mich die Stimme des Weißgekleideten aus meinen Gedanken, »ward zum Kelch!« War es ein Mann, der da sprach, war ’ s eine Frau? Ich hätte es nicht sagen können. Der Nachtwind wehte die Worte zu mir h e rauf; sie wurden von den Bäumen zwischen uns g e spalten, verwirbelt, verrauscht. »Der Kelch empfing das Blut …«
Sublimation, schoß es mir durch den Kopf, meiner o k kulten Kenntnisse gedenkend, die Überhöhung des einen durch das andere. Wem wurde da welches Geheimnis enthüllt? Ging es um den Gral?
»Als Maria von Magdala hier an Land ging, führte sie das Heilige Blut mit sich, trug es in sich«, erscholl die Stimme des Verhüllten. »Eingeweihte Druidenpriester, e r wartungsvolle Schrift gelehrte des alten Judentums nahmen sie auf, ließen sie niederkommen, Fleisch we r den …«
Gesta Dei per los Francos – spielte er darauf an, auf diese ständig angemahnte Bevorzugung der französischen Nobilität durch den lieben Gott? Wir waren zwar hier nicht in Frankreich, aber kräftig dabei, es hierhin auszu b reiten, da mochte Gott schon seine Vorsorge getroffen haben!
»Das Blut! Ewig kreisender Strom, pulsierend, lebend!« rief der alte Druide. »Es bedarf nicht der Transsubstantiat i on, es entzieht sich ihr, es vergeistigt sich, wird Geist, wird zum ›Wissen um das Blut‹ …«
Sublimatio ultima, dachte ich befriedigt, doch verwirrt; ein handfester Kelch wäre mir lieber gewesen, meinetw e gen mit ein paar eingetrockneten Tröpfchen dieser errege n den Flüssigkeit!
Der Alte – oder war es doch eine Priesterin – hatte
Weitere Kostenlose Bücher