Gral-Zyklus 1 - Die Kinder des Gral
aus dem Gleichgewicht geraten und fortan mit sich selbst b e faßt sind, ohne Rücksicht auf Kaiser und Papst.
Ein weiteres Jahrzehnt danach demütigt Papst Gregor VII. den deutschen König Heinrich I V, indem er ihn vor der Burg von Canossa mehrere Tage warten läßt, bevor er ihn vom Kirchenbann befreit. Heinrich rächt sich, er treibt Gregor in die Engelsburg, läßt sich durch einen Gegenpapst zum Kaiser krönen. Gregor ruft die Norma n nen Süditaliens zu Hilfe, aber die wüten in Rom derart, daß es zum Au f stand der Römer kommt. Gregor muß mit den Normannen aus der Stadt flüchten, stirbt im Exil in Salerno.
In dieser Not ruft sein Nachfolger Urban II. auf dem Konzil von Clermont zum Kreuzzug auf. »Deus lo volt!«
Ob Gott den Kreuzzug gewollt hat, steht dahin; gewiß gehörte er zu den Geißeln, mit denen Er die Menschheit zu züchtigen gedachte, und was Er will, läßt Er auch gesch e hen.
Das Tier hatte diese Lawine aus Blut und Tränen, Haß, Gier und Verblendung mutwillig losgetreten. Das Ung e heuer hatte wohl insgeheim damit gerechnet, eines Tages von der empörten Menge in Stücke gerissen, erschlagen und verbrannt zu werden – aber nicht, übergangen und in der Folge vergessen zu werden.
Der Kreuzzug war nichts anderes als die trotzige D e monstration des Papsttums, an der Spitze des gesamten Abendlandes zu stehen, die Fürsten zu einem solchen Schritt bewegen zu können. Es waren deren zweit- und drittgeborene Söhne, ohne Aussicht auf ein Erbe oder L e hen, die sich das Kreuz an den Mante l h efteten und sich an die Spitze des Zuges setzten. Ihnen folgte das Heer der Armen – flüchtige Strauchdiebe, Schinderknechte, Hure n treiber, Galgenstricke, Wegelagerer, Beutelschneider, Schnappsäcke und sonstiges Gesindel – und dazu kamen die Weiber, die käuflichen und die beseelten, die liederl i chen und die fürsorglichen, die liebenden und die en t täuschten. Dazu kamen die Mönche und Priester, verludert oder voll glühendem Reformeifer, fanatische Bekehrer und solche, die sich neue Pfründe erhofften. Solcherart war der Zug, der sich durch Europa wälzte.
W üste Pogrome eilten ihm voraus; die Giftsaat des Ti e res ging auf. Juden totschlagen war eine gute Fingerübung für das, was man den Heiden zugedacht hatte. Und das U n geheuer hatte ja völligen Ablaß aller Sünden verspr o chen – für die wenigen, die aus christlichem Gewissen das Kreuz genommen hatten. Den von weltlichen Grü n den Bewegten winkte über das Seelenheil hinaus der Gewinn ungeheurer Reichtümer.
Viele träumten von einem Garten Eden, der seit der Ve r treibung aus dem Paradies unbevölkert geblieben war, von verlassenen Palästen, in denen Schatztruhen offen standen, gefüllt mit Gold und Juwelen – und das Tier ließ sie trä u men. Viele meinten, die ›Ungläubigen‹ harrten wie Kinder in Erwartung ihrer Eltern sehnsüchtig auf das Kommen der Kreuzfahrer. Viele dachten überhaupt nichts und wunde r ten sich um so mehr darüber, ein in Jahrhunderten gewac h senes Feudalgefüge vorzufinden, Zivilisation und Wisse n schaft, der unseren weit überl e gen.
D iejenigen , die das Gift des Tieres nicht blind, taub und gefühllos gemacht hatten, empfanden die Erfahrung des Heiligen Landes als einen Schlag ins Gesicht. Aber auch das Tier wurde schwer getroffen: Aus dem Morgenland drangen nicht nur Duftwässer und ätherische Öle in die Poren des Abendlandes, nicht nur die Kunst der Liebe, des Tanzes, der Musik, des Gesanges, der Poesie, so n dern vor allem Geister, Geister der Ph il osophie, Geister des freien Gedankens. Geister, die das Abendland nicht mehr losli e ßen, so sehr das Tier auch schnaubte und Fe u er spuckte. Es spürte, daß dieser Wind des Orients seinen Giftodem eines Tages vertreiben würde und daß es in der klaren Luft der Vernunft nicht mehr zu gedeihen ve r möchte.
Der erste Kreuzzug nahm seinen glorreichen Abschluß mit der Einnahme von Jerusalem. Die Eroberer wateten drei Tage lang im Blut der erschlagenen Muselmanen, der erwürgten Juden, der niedergemetzelten Christen der Stadt. Dann riefen sie das »Ewige Königreich von Jerus a lem‹ aus und verteilten Land, Burgen und Städte unter sich, unter den noblen Führern auf. Die mitgezogenen Armen, soweit sie nicht umgekommen waren durch Hunger, Durst, Hitze und Kälte, durch Schlachten oder in der Sklaverei, blieben das, was sie schon vorher gewesen waren.
Es dauerte drei Generationen, bis sich die arabische Welt von dem Entsetzen
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