Gran Reserva
dass sie solch einen verzweifelten, flehenden Kuss zum ersten Mal gab. Dass Küsse für sie sonst keine Währung waren, um zu bekommen, was sie wollte. Und dank der wenigen Quadratzentimeter, an denen sich ihre Körper gerade berührt hatten, änderte sich etwas in ihm. Vierunddreißig Gesichtsmuskeln hatten sich gerade bewegt, Cristinas Zungenspitze hatte seine berührt, und ein kleiner Blitzschlag war durch seinen Körper gefahren.
Max hatte in seinem Leben schon Frauen geküsst, die den Kuss zur Kunstform entwickelt hatten, doch dieser unbeholfene Kuss war vielleicht der ehrlichste von allen gewesen. Ein Flehen. Ein SOS aus tiefstem Herzen.
Und er konnte sich diesem nicht verschließen.
Er hatte doch ein neues Leben gewollt, eines mit rauen Kanten, ein ungeschöntes, ein nicht auf immer festgezurrtes. Und nun drängte es ihn beim ersten Anzeichen eines steinigen Weges zurück in seine Komfortzone? Nein. Er würde diese Frau nicht in ihrem Schmerz, ihrer Hilflosigkeit, ihrem Elend alleinlassen. Er würde etwas riskieren. Jetzt und hier.
»Was soll ich tun?«
Max hatte nicht damit gerechnet, dass seine erste Hilfe darin bestehen würde, das Fach mit einem Putzlappen von Blut zu befreien.
Kurz nach Mitternacht parkten sie Maxʼ Jeep am Ufer des Ebro, weit außerhalb Logroños, an einer Stelle, wo nicht einmal mehr die Lichter der Stadt zu sehen waren. Nur Felder wurden vom Mond beschienen. Der bei der Fahrt über den Feldweg aufgewirbelte Staub wehte wie Gewitterwolken über Max, als er ausstieg.
Er wartete.
Ob sich irgendwo etwas tat, jemand zu hören war, zu sehen.
Dann erst trat er zur Beifahrertür und öffnete sie für Cristina. Doch sie stieg nicht aus.
»Sicher?«
»Sicher.«
»Willst du nicht noch näher ans Ufer fahren?« In der Zwischenzeit war das Sie schnell dem vertrauteren Du gewichen. Doch weitere Küsse hatte es für Max nicht gegeben. Cristinas erster lag immer noch wie Zucker auf seinen Lippen.
»Es ist nicht genau zu erkennen, wo die Böschung beginnt. Lass uns lieber kein Risiko eingehen.«
»Ich will die Leiche nicht weit schleppen müssen. Es ist schrecklich. Sie ist so schwer und so…«
»…tot«, ergänzte Max und öffnete den Kofferraum. »Wir sollten es hinter uns bringen.« Er zündete sich eine filterlose Zigarette an, sog jedoch nur dreimal daran, bevor er sie nervös und ohne einen Gedanken daran zu verschwenden auf den Weg warf. Dann zog er die Spülhandschuhe an und reichte Cristina ein weiteres Paar. Kein einziger Fingerabdruck würde sich an der Leiche finden, die sie notdürftig in durchsichtige Folie gewickelt hatten, welche normalerweise für Paletten von Weinkartons verwendet wurde. Sie hatten nichts anderes gefunden. Und den Toten einfach so zu transportieren, erschien ihnen viel zu gefährlich, sie hätten überall Blutspuren hinterlassen.
Das Plastik verzerrte das Gesicht des Toten. Paketband hielt alles notdürftig zusammen. Cristina war stärker, als sie aussah, und griff sich die Beine, Max packte den Toten unter den Schultern an. Gute zwanzig Meter waren es bis zum Ebro, der sich breit und langsam wie schwarze Lava dahinschob.
»Wir müssen ein Stück rein, damit die Strömung die Leiche fortträgt.«
Max zögerte, die Kälte des Wassers war auch aus der Entfernung auf der Haut zu spüren, doch die Leiche zog an seinen Armen, er wollte sie loswerden, keine Sekunde länger berühren müssen.
Als er ins eisige Wasser trat, nagte es mit spitzen Zähnen an seinen Füßen und Unterschenkeln.
Cristina ließ los und lief zurück ans Ufer, sodass Max den leblosen Körper die letzten Meter alleine ziehen musste, bis er weit über die Knie im Strom stand.
Dann übergab er ihn dem Wasser. Ob die Leiche unterging oder weitertrieb, egal, sie war endlich weg.
»Es ist vorbei«, sagte er leise, doch in der Stille der Nacht trugen seine Worte bis zu Cristina. »Wenn uns niemand gesehen hat.«
»Keiner war mehr da«, sagte Cristina, mehr um sich selbst zu beruhigen. »Und wir haben alles geputzt. Videoaufzeichnungen gibt es nicht.«
»Aber ich sag es dir noch mal: Irgendjemand muss gesehen haben, wie dieser Mann reingegangen ist. Man kommt doch nicht so einfach bei euch in die Schatzkammer.«
»Lass uns fahren. Ich will ins Bett.«
»Du kannst jetzt schlafen?« Max trat zurück ans Ufer und presste das Flusswasser mit den Händen aus seiner Kleidung.
»Bitte. Ich bin erschöpft.«
Er wurde nicht schlau aus dieser Frau. War sie etwa nicht so aufgewühlt wie
Weitere Kostenlose Bücher