Gran Reserva
grau, die Haut zerfurcht wie brüchiger Fels. Seine Augen waren noch geöffnet, blickten leer und gebrochen in Cristinas Richtung. Ein unausgesprochener Vorwurf lag darin. Über und über war sein Gesicht mit Blut bedeckt.
Max fühlte sich, als sei sämtlicher Sauerstoff aus seinen Lungen gepresst worden. Sein Herz stolperte und er wich automatisch vor dem Toten zurück. Cristina zitterte am ganzen Leib, ihre Schultern zuckten auf und ab, stockend sog sie die Luft ein.
Mit klammen Fingern wollte Max sein Handy aus der Jacke ziehen – doch das hatte er ja vor seinem Flug in einem Mülleimer versenkt. Er würde in der Bodega nach einem Telefon suchen müssen. »Welche Nummer hat die Polizei hier?«, fragte er mit brüchiger Stimme.
Cristina sagte nichts.
»Ich geh schnell rauf, oben wird es schon irgendjemand wissen.« Max war unwohl dabei, Cristina mit der Leiche im Keller zurückzulassen, doch die Behörden mussten so schnell wie möglich informiert werden, soviel wusste er aus unzähligen Filmen und Fernsehserien. »Bin gleich wieder zurück.«
Doch Cristina stand auf und schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren glasig, ihre Lippen blass. »Keine Polizei, bitte.«
»Was? Wie meinen Sie das?«
»Davon darf keiner erfahren. Niemand.«
Max schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Richtung Treppe.
»Bitte! Tun Sie es nicht.« Cristina drehte sich um, blickte nochmals zur Leiche, als wolle sie sichergehen, dass sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Dann schob sie Max einige Meter in die Mitte des Raumes, um Abstand zum Unfassbaren zu gewinnen. Sie schaute auf ihre schmale Damenarmbanduhr. »Es ist schon nach sechs. Da keine Lese ist, sind wir die Letzten in der Bodega.«
»Was soll das heißen? Ist mir völlig egal, wie viele noch in der Bodega sind. Wir rufen jetzt sofort die Polizei. Es gibt Angehörige, die von seinem Tod erfahren müssen. Je eher, desto besser. Und dieser Mann ist allem Anschein nach ermordet worden. Wir müssen die Polizei informieren. Sie muss den Tatort sichern, Spuren suchen, Mitarbeiter der Bodega befra…«
Cristina presste ihm ihre Hand auf den Mund. »Unser König hat sich angekündigt. Zum 50-jährigen Jubiläum der Faustino-Weine. Ein neuer Fasskeller wird zu diesem Anlass eröffnet. Wenn es einen Mordfall in der Bodega gibt, wird er seinen Besuch absagen. Und da ich die Leiche gefunden habe, wird man es mir in die Schuhe schieben.«
Max drückte ihre Hand fort. »Aber Sie haben ihn doch nicht auf dem Gewissen!«
»Ich habe ihn entdeckt und bin auch noch in der Probezeit. Ich habe mir schon ein paar Kleinigkeiten geleistet, das bringt das Fass zum Überlaufen. Bitte!« Sie strich Max zärtlich über die Wange, doch ihre Finger zitterten dabei. »Bitte.«
Max wusste, dass man manchmal nicht merkte, wenn sich das eigene Leben entscheidend änderte. Manche Abzweigungen nahm man, ohne ihre Bedeutung auch nur zu erahnen. Kleinigkeiten, wie etwa die Entscheidung, einen anderen Bus zu nehmen, in dem man dann die Frau seines Lebens trifft, einen günstigeren Urlaub zu buchen, in dem man sich später beide Beine bricht. Doch in diesem Moment war Max klar, dass sich sein Leben ändern würde.
Falls er Cristinas Bitte nachgab. Der Bitte einer Frau, die er gerade einmal eine Stunde kannte. Die wegen ihres Jobs einen Mord vertuschen wollte. Was war das nur für eine Frau?
Sollte er ihr wirklich solch einen Gefallen tun? Einen Gefallen von der Größe des Himalaja-Gebirges? Und seiner Ausläufer?
Wohl eher nicht.
»Okay«, sagte Max nach einigen kräftigen Atemzügen. »Ich rufe die Polizei nicht an. Und ich bin auch nie hier gewesen. Alles Gute für Sie. Ich finde alleine raus.«
Er kam nur bis zum Ausgang der Schatzkammer, als Cristinas Stimme wieder erklang. »Das schaff ich nicht alleine.« Ihr kamen Tränen. »Das krieg ich niemals hin.«
Max drehte sich um. »Dann rufen Sie Ihren Freund an oder jemanden aus der Familie!«
Sie schüttelte den Kopf. »Davon darf keiner wissen. Niemand.«
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, ich soll Ihnen helfen, die Leiche zu verstecken? Damit mache ich mich strafbar. Ich bin doch nicht wahnsinnig. Nachher denkt noch einer, ich hätte was damit zu schaffen. Was, wenn ich dabei gesehen werde? Nee, niemals. Ich bin jetzt weg.«
Cristina rannte ihm nach, griff mit beiden Händen seinen Kopf und küsste ihn, leidenschaftlich. Max spürte an der Unsicherheit des Kusses, daran, wie sich ihre Lippen mit ungestümem Druck auf die seinen legten,
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