Granger Ann - Varady - 01
wieder weg wäre. Ganesh würde meine Leiche finden, und die Polizei würde den Fall als ein weiteres ungelöstes Verbrechen zu den Akten legen.
Ich hatte keine Zeit, noch länger darüber nachzudenken.
Jamie – oder sein Handlanger – bewegte sich durch den
Hausflur in Richtung des vorderen Zimmers, wo ich geschlafen hatte. Ich ging vorsichtig zur Tür in der Hoffnung,
mich dahinter zu verbergen, sobald er sie öffnete. Mein Plan
war, hinter ihm nach draußen zu schlüpfen, zur Küche zu
flüchten und aus dem Fenster zu klettern, bevor er mich
würde aufhalten können. Alles äußerst unwahrscheinlich,
aber die einzige Chance, die ich hatte.
Doch die Plastikplane, die Ganesh auf dem Boden ausgebreitet hatte, war von der Feuchtigkeit rutschig geworden,
und während ich noch wegrutschte und versuchte, das
Gleichgewicht zu bewahren, öffnete sich die Tür.
Zuerst konnte ich ihn nicht sehen. Ich hörte ihn nur atmen, ein angestrengtes Atmen, denn das Klettern durch das
aufgebrochene Fenster hatte ihn Kraft gekostet. Dann gewöhnten sich meine Augen an das wenige Mondlicht, dass
hinter ihm durchs Küchenfenster in den Flur fiel. Ich sah
seine Silhouette. Wenn ich bis zu diesem Augenblick die
Hoffnung gehabt hatte, dass es Ganesh sein könnte, so war
sie nun dahin. Die Silhouette gehörte einem viel größeren,
breiter gebauten Mann. Außerdem hätte Ganesh nach der
Geschichte vor meiner Wohnung wahrscheinlich sofort
nach mir gerufen, damit ich wüsste, dass er es war. Sowohl
Jamie als auch Lundy waren ein ganzes Stück größer und
breiter als Ganesh. Die bedrohliche Gestalt in der Tür konnte jeder der beiden sein.
Ich machte das Einzige, das mir in diesem Augenblick
einfiel. Ich schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete
ihm direkt ins Gesicht in der Hoffnung, ihn so zu blenden,
dass ich an ihm vorbei in den Flur rennen konnte.
Doch ich rannte nicht. Stattdessen stand ich da wie angewurzelt. Das Gesicht glänzte gelb und unnatürlich im
Strahl der Taschenlampe. Es war nicht das Gesicht von Jamie Monkton oder dem widerlichen Lundy. Es war das Gesicht von Nick Bryant.
»Nick?«, fragte ich vollkommen verdattert. »Was machen
Sie denn hier?«
Seine Stimme klang eigenartig, als er antwortete – als wäre irgendein Schalter umgelegt worden, verzerrt und hoch.
»Ich dachte mir, dass ich dich hier finde.« Kein Gefühl in den
Worten, keine Befriedigung, keine Feindseligkeit. Überhaupt
nichts. Eine irre Stimme, die zu jemandem gehörte, mit dem
keine vernünftige Diskussion möglich war.
Die paralysierende Angst drohte wiederzukehren, und ich
schüttelte sie nur mit Mühe von mir ab. Ich verstand nicht
so richtig, was das alles zu bedeuten hatte, doch ich musste
jetzt nicht anfangen, darüber nachzudenken. Er war in das
Zimmer gekommen, und ich sah, dass er etwas in der Armbeuge hielt: eine doppelläufige Schrotflinte.
»Was wollen Sie?« Eine weitere dumme Frage. Meine
Stimme klang krächzend und wahrscheinlich genauso verzerrt wie seine.
Die ganze Zeit über rasten meine Gedanken. Nick? Nick? Das konnte doch nicht sein! Hatte ich alles falsch zusammengesetzt? Nick war nett . Er war ein netter Mann. Seine Mutter
war eine nette Frau. Und Nick mochte mich. Er mochte mich.
Ich wusste , dass er mich mochte. Er würde mir nichts tun.
Oder doch?
Doch, er würde. Ganz plötzlich wusste ich es.
Ich schien mich bewegt zu haben, denn er schwang die
Schrotflinte herum, und plötzlich sah ich in den Zwillingslauf.
»Nein!«, befahl er. »Setz dich. Gleich da, wo du stehst!«
Ich setzte mich auf den gefütterten Schlafsack, schlang die
Arme um die Knie und wartete. Er bewegte sich auf mich zu
und trat die Obstkiste durch das Zimmer. Dann setzte er
sich darauf, blieb zwischen mir und der Tür und legte die
Schrotflinte auf die Knie.
Ich hielt noch immer die Taschenlampe, und er befahl:
»Leg sie hin. Neben dich. Und fass sie nicht wieder an.«
Ich legte die Taschenlampe hin. Der Strahl leuchtete über
den Boden direkt auf seine Füße. Der Rest von ihm blieb in
der Dunkelheit verborgen, doch die beiden Läufe der
Schrotflinte glitzerten.
»Wenn Sie die abfeuern«, sagte ich, »dann wird es jemand
hören.«
»Wer? In dieser Straße gibt es nur noch leere Häuser,
sonst nichts. Nichts zwischen hier und diesem Laden an der
Ecke. Außerdem würde hier in der Gegend jeder so tun, als
hätte er nichts gehört. Und selbst wenn jemand die Polizei
anruft – bis sie hier ist, bin ich längst wieder
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