Granger Ann - Varady - 03
mich zu sehen. »Du schon
wieder!«, rief sie, und ihr verkniffenes Gesicht wurde weiß
vor Wut, was den grünlich-blauen Fleck auf ihrer Wange
noch deutlicher hervortreten ließ. »Verfolgst du mich etwa
oder was?«
»Zeit für die Kaffeepause, Tig«, sagte ich. »Und mach dir
keine Gedanken wegen dem Kerl. Er ist in ein Pub gegangen.«
Wir nahmen unsere Styroporbecher mit nach unten zum
dunkel olivgrünen Wasser des Kanals und suchten uns einen
Platz, wo wir sitzen konnten. Tig kauerte vornübergebeugt auf
ihrer Seite der Bank, trank von ihrem Kaffee und hielt den
Blick unverwandt auf das träge vorbeifließende Wasser, das
so dick war wie Melasse.
»Wie heißt er?«, fragte ich.
»Jo Jo.«
»Hat er dich verprügelt?«
Unwillkürlich nahm sie eine Hand nach oben und betastete das Hämatom auf ihrer Wange. »Niemand hat mich
verprügelt«, sagte sie. »Es war ein Klaps, weiter nichts.« Sie
richtete sich kampflustig auf, und ihre Augen blickten so
kalt wie das Wasser des Kanals durch die fettigen blonden
Haarsträhnen. Sie trug einen Ring in der linken Augenbraue, ein Piercing, das sie in den Tagen in der Jubilee Street
noch nicht gehabt hatte. Ich hatte selbst einen Nasenstecker,
deswegen stand es mir nicht an, sie zu kritisieren, verstehen
Sie mich nicht falsch. Es war mehr, dass Tig in noch einem
weiteren Detail anders war als in den alten Tagen. »Außerdem war es deine Schuld«, fügte sie hinzu.
»Meine Schuld?« Ich wollte wissen, wie sie auf diesen Gedanken gekommen war.
»Der Schokoladenriegel, den du mir gegeben hast. Er hat
ihn in meiner Tasche gefunden. Er hat behauptet, ich hätte
Geld genommen und mir Sachen davon gekauft. Aber das
stimmt nicht.«
»Ein lausiger Schokoriegel?«, fragte ich ungläubig. »Er hat
dich geschlagen, weil er geglaubt hat, du hättest dir einen
Schokoriegel gekauft?«
»Ich habe keinen Schokoriegel gekauft!«, begehrte sie auf.
»Du hast ihn mir geschenkt!«
»Oh, bitte entschuldige!«, entgegnete ich sarkastisch. »Ich
konnte ja nicht wissen, dass ihm das als Begründung ausreicht! Ja, sicher, meine Schuld. Wieso habe ich nicht daran
gedacht?«
Sie schwieg und wandte den Blick ab. »Wie dem auch sei,
Fran, ich wollte damit nicht sagen, dass es nicht nett war
von dir. Aber wenn die Leute einem zu helfen versuchen,
machen sie es fast immer nur noch schlimmer. Das weißt
du selbst.«
Ich ließ sie schmoren. Wir tranken unseren Kaffee aus,
und sie schleuderte ihren Becher in den Kanal, wo er auf
und ab tanzend davontrieb. Die alte Tig, die mit hellen Augen und langem Pferdeschwanz aus dem Herzen Englands
zu uns gekommen war, hätte nicht einmal im Traum daran
gedacht, ihren Abfall einfach so in die Umwelt zu werfen.
»Warum hast du dich mit ihm zusammengetan?«
»Was glaubst du denn?« Sie zuckte die Schultern. »So
schlimm ist er gar nicht.« Sie warf mir einen Seitenblick zu.
»Wenn du es unbedingt wissen musst – ich … ich hatte ein
schlimmes Erlebnis. Ich wurde vergewaltigt.« Die letzten
Worte kamen mit schrecklicher Tonlosigkeit über ihre Lippen, und ihr Gesicht war ausdruckslos.
Ich wartete. Nach ein paar Augenblicken fuhr sie fort.
»Ich ging damals auf den Strich, aber damit hatte ich nicht
gerechnet. Ich war dumm. Ich hätte es wissen müssen … ich
meine, eine Prostituierte hätte es sofort erkannt und wäre
abgehauen, aber ich habe es förmlich herausgefordert, so
war das.«
»War es denn ein Kunde?«, fragte ich.
»Ja. Oder jedenfalls dachte ich das. Ich dachte, er wäre alleine. Er kam zu mir, ein junger Typ, angetrunken, ein Städter. Es war Freitagabend und ich dachte, er würde das Wochenende feiern und wäre auf der Suche nach einer schnellen Nummer. Ich ging mit ihm zu seinem Wagen – ich sagte
ja, ich war dumm –, und bevor ich mich versehe, waren
zwei weitere Kerle da, Freunde von ihm. Sie stießen mich in
den Wagen und fuhren mit mir zu einem Haus. Sie waren
wie der erste Typ, schick angezogen, städtisch und so weiter.
Und stockbetrunken. Sie hielten mich ein paar Stunden lang
in diesem Haus fest und hatten ihren Spaß mit mir. Ich
weiß nicht genau wie lange. Ich wollte nur, dass alles endlich
vorbei war und dass ich lebendig wieder dort rauskam.
Meine größte Angst war, dass sie mich nicht gehen lassen
würden. Aber am Ende ließen sie mich gehen.«
»Und weißt du, wo dieses Haus ist?«, fragte ich wütend.
»Nein, es war dunkel. Ich hatte zu viel Angst, um darauf
zu achten. Ich habe die Kerle beobachtet, nicht
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