Granger Ann - Varady - 04
Leben, sie leiden unter Gedächtnisschwund – die wenigsten sind Opfer eines Verbrechens.
Familien suchen immer weiter nach ihren verschwundenen
Angehörigen. Sie geben niemals die Hoffnung auf. Man findet die Aufrufe um Mithilfe im Big Issue . Einige der Verschwundenen werden bereits seit Jahren vermisst, genau wie
meine Mutter, die jahrelang einfach verschwunden blieb.
Aber wie meine Mutter können sie jederzeit wieder auftauchen, auch nach Jahren noch. Ich fragte mich, für wie viele
von ihnen die Probleme erst richtig losgingen, wenn sie
wieder auftauchten.
Doch nichts von alledem ging mich etwas an. Nicht
mehr. Ich hatte Jerry und Flora Wilde gewarnt, dass die Polizei nach einem Kind suchte, das vor dreizehn Jahren von
der Bildfläche verschwunden war. Ich konnte nicht mehr
tun, als mich von den Wildes fern zu halten, was ich nur zu
gerne tat. Ich hatte alles getan, was meine Mutter von mir
gewollt hatte, und ihr Bericht erstattet, und kein Mensch auf
der Welt konnte mehr von mir verlangen. Die Frage nach
dem Mörder von Clarence Duke war noch ungelöst, doch je
länger ich darüber nachdachte, desto mehr Gründe fand
mein Gehirn, warum Jerry Wilde es nicht getan hatte. Duke
war ein Privatdetektiv gewesen, und ein überaus neugieriger
obendrein. Seine Frau hatte es gesagt, und sie musste es wissen. Er hatte anderen gerne hinterherspioniert. Wer wusste
schon, was er sonst noch gemacht hatte, außer Mutters Leben auszuschnüffeln?
»Weißt du, Gan«, sagte ich, als wir von der U-Bahn zum
Laden gingen, »Rennie Duke war die Sorte von Mensch, die
sich alle möglichen Leute zum Feind gemacht hat, und einige davon waren bestimmt nicht ungefährlich. Jeder von ihnen hätte ihn verfolgen oder einen Killer auf ihn ansetzen
können. Es war wahrscheinlich reiner Zufall, dass der Killer
ihn ausgerechnet vor meiner Garage gefunden hat. Sein Tod
hat überhaupt nichts mit mir zu tun.«
Was außerdem bedeutete, dass ich nicht in irgendeiner
Gefahr schwebte. Dukes Killer, wer auch immer er sein
mochte und was auch immer sein Motiv gewesen war, hatte
sich wahrscheinlich längst aus dem Staub gemacht und
würde für sehr lange Zeit nicht mehr in diesem Teil Londons auftauchen. In mir breitete sich ein richtiges Hochgefühl aus.
»Inspector Morgan wird sämtliche Fälle von Duke durchgehen«, sagte Ganesh.
Ich dachte daran, wie kompetent und hartnäckig ich Janice Morgan gegenüber Jerry Wilde beschrieben hatte. »Ja,
das wird sie«, stimmte ich Ganesh zu. »Es war vollkommen
logisch, dass sie mit mir angefangen hat. Es musste so
kommen, oder? Du und ich, wir haben schließlich die Leiche gefunden. Wir kannten ihn. Aber wenn die Cops angefangen haben, Dukes Hintergrund genauer zu durchleuchten, dann haben sie jetzt wahrscheinlich schon einen ganzen
Stapel von Verdächtigen zusammen.«
Ganesh sah mich misstrauisch an. »Du bist mit einem
Mal so vergnügt.«
»Natürlich bin ich das. Ich bin erleichtert, weil ich nicht
länger unter Verdacht stehe. Der Killer, wer auch immer es
gewesen ist, hatte wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung, dass ich in Haris Garage schlafe oder dass überhaupt
irgendjemand in der Nähe war. Er weiß nichts von mir, Ganesh. Ich bin außer Gefahr.«
Die aufsteigende Euphorie machte mich leichtsinnig.
»Komm, ich lade dich heute Abend auf einen Gemüseburger und ein Bier ein.«
»Ich will dir deine Hochstimmung ja nicht verderben«,
sagte Ganesh richtig verlegen. »Ich bin der Letzte auf der
Welt, der möchte, dass du dich mit zwielichtigen Gestalten
in U-Bahn-Stationen triffst. Soweit es mich betrifft, bedeutet es, dass du aufhörst mit deinem Detektivkram, und das
finde ich großartig. Aber bist du dir absolut sicher? Du wirst
nicht morgen Früh aufwachen und irgendeine neue und
wunderbare Idee haben, um weitere Nachforschungen über
Dukes Tod anzustellen?«
»Aber selbstverständlich bin ich sicher!«, versprach ich.
»Rennie Dukes Tod hatte nicht das Geringste mit mir oder
meiner Mutter zu tun! Den ganzen Rest überlasse ich Inspector Janice Morgan.«
Die sicherlich sehr erfreut gewesen wäre, diese Worte aus
meinem Mund zu hören – wäre sie zugegen gewesen. Doch
weil sie nicht da war, musste ich mich mit Ganeshs Billigung
zufrieden geben – und die endlich mal wieder zu spüren war
auch nicht schlecht. Und selten.
KAPITEL 15 Obwohl ich ununterbrochen an
meine Mutter denken musste, gab es auch noch andere
Dinge, denen es Aufmerksamkeit zu widmen galt.
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