Granger Ann - Varady - 05
seines Empfangs durch Mario
schien es nicht viel Sinn zu haben für ihn, noch einmal zum
San Gennaro zu kommen. Es wäre sogar richtig gefährlich.
Aber der Junge hatte irgendetwas an sich gehabt, eine Art
eingebauter Halsstarrigkeit, die ich deutlich gespürt und mit
der ich mich möglicherweise sogar identifiziert hatte. Wenn
er etwas beim San Gennaro suchte, dann würden ihn eine
Schimpfkanonade und ein knappes Entrinnen nicht abschrecken. Verzweiflung trägt ihren Teil zur Verwegenheit
bei. Selbst wenn eine Handlungsweise dumm ist – wenn
man keine andere zur Verfügung hat, bleibt einem keine
Wahl.
»Max …«, murmelte ich leise vor mich hin. »Wer zum
Teufel ist Max?«
Eine Woche lang geschah nicht sehr viel, nichts Außergewöhnliches jedenfalls. Ich ging zur Arbeit; Ganesh und ich
übten gemeinsam unseren Text, und der Junge und seine
Suche nach diesem Max gerieten in Vergessenheit. Ich hatte
Ganesh nichts von meiner Begegnung im Hinterhof der Pizzeria erzählt, weil ich weiß, dass er es nicht mag, wenn ich
meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecke, wie er
es nennt. Der Junge war nicht wieder aufgetaucht, jedenfalls
nicht, während ich gearbeitet hatte. Ich hatte in dieser Zeit
hauptsächlich die Tagesschicht und meine Spätschichten
mit Bronia getauscht, damit ich zu den Proben konnte.
Vielleicht hatte der Junge am Ende doch noch kapiert, dass
es nicht klug war, Mario erneut über den Weg zu laufen.
Vielleicht hatte er auch den geheimnisvollen Max gefunden.
Oder vielleicht …
Doch an dieser Stelle befahl ich meiner Fantasie entschieden, mit den wilden Spekulationen aufzuhören. Der Junge
und ich waren nichts weiter als Schiffe gewesen, die sich in
der Dunkelheit begegnet waren. London ist voller Menschen, die auftauchen, das Leben eines anderen kurz berühren und wieder verschwinden. Wer weiß schon, woher sie
kommen und wohin sie gehen? Und wen kümmert es? Nur
wenige.
Bis jetzt hatten wir in meiner Wohnung geprobt, doch
wir mussten allmählich mit der Bühne oben im Veranstaltungsraum des Rose Pub arbeiten. Wir erklärten Freddy,
dass wir von nun an dort proben wollten.
»Sicher, nur zu«, sagte er. »Wie ihr wollt. Niemand sonst
hat den Veranstaltungsraum gebucht. Er ist frei. Wie kommt
ihr denn voran?«
Wir versicherten ihm, dass wir wunderbar vorankämen.
»Ich habe schon mit dem Vorverkauf der Eintrittskarten
an meine Kundschaft angefangen«, erklärte Freddy mit einem stählernen Blick in den Augen. »Sie wollen einen Gegenwert für ihr Geld.«
Marty sagte ihm, dass es absolut nichts gäbe, weswegen er
sich Sorgen machen müsse. Bei mir dachte ich, dass Marty
sich sehr wohl Sorgen machen musste. Falls das Stück trotz
all seiner gegensätzlichen Beteuerungen gegenüber Freddy
ein langweiliges Desaster wurde, würde er den Theaterwunsch »Hals- und Beinbruch« möglicherweise in einem
ganz anderen Kontext kennen lernen.
Doch selbst ich war aufgeregt angesichts des Gedankens,
tatsächlich endlich auf der Bühne zu stehen und meinen
Text anständig aufzusagen, und so machte ich mich auf den
Weg zu unserer ersten Probe im Rose Pub mit dem Gefühl,
dass die Dinge endlich anständig ins Rollen kamen. Plötzlich fühlte sich alles sehr viel professioneller an als noch
kurz zuvor. Wir würden uns an diesem Abend außerdem
zum ersten Mal mit einer neuen Besetzung treffen, einer
wichtigen: dem titelgebenden Hund.
Das fragliche Tier gehörte Irish Davey, der es eigens für
die Rolle trainierte. Es würde nur ein einziges Mal auftauchen, beim Höhepunkt des ganzen Stücks, wo es von einer
Seite der Bühne zur anderen springen sollte. Irish Davey
hatte versichert, dass es absolut kein Problem damit gäbe,
dem Tier diesen Trick beizubringen.
Mein Weg zum Pub führte mich an Onkel Haris Zeitungsladen vorbei, wo ich Bonnie abliefern und Ganesh abholen würde. Hier und dort hatten sich bereits die ersten
Schläfer in den Hauseingängen für die Nacht eingerichtet.
Eine Gestalt in einer schmuddeligen Decke sah besonders
klein und elend aus, und sie erinnerte mich an den Jungen
aus dem Hinterhof. Ich blieb stehen und spähte in den
Hauseingang. Außer einem Schopf dunkler Haare war
nichts zu erkennen. War das der Junge?
Unvermittelt hörte ich das Geräusch von Schritten und
Schnaufen hinter mir und wirbelte herum. Ein junger Mann
war wie aus dem Nichts aufgetaucht, schlecht angezogen,
unrasiert und schmuddelig, mit einer Wollmütze über den
langen, fettigen
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