Grappa lässt die Puppen tanzen - Wollenhaupt, G: Grappa lässt die Puppen tanzen
um Befragungen zu der Toten und dem verschwundenen Jungen. Sie haben die Erlaubnis, unseren Einsatz zu bobachten. Aber achten Sie bitte darauf, nur Leute zu fotografieren, die Ihnen das ausdrücklich erlaubt haben.«
Mal wieder die Stimme des Volkes
Zehn Minuten später schwärmten die Männer der Spezialeinheit aus. Sie läuteten – falls es an den Häusern noch intakte Klingeln gab – und verschwanden dann in den Gebäuden.
Die Zeit verstrich. Je länger die Aktion dauerte, umso mehr Schaulustige sammelten sich auf der Straße. Auch die ersten Kollegen tauchten auf.
»Jetzt geht es dem Zigeunerpack an den Kragen«, freute sich ein guter Deutscher, dessen Tränensäcke jahrzehntelangen Alkoholmissbrauch widerspiegelten.
Ein Journalist, der als Freier für konservative Blätter arbeitete, zog den Mann zur Seite, ließ ihn weiterschimpfen und notierte eifrig, was die ›Stimme des Volkes‹ zu sagen hatte.
Ich wandte mich ab, um nicht ausfallend zu werden.
»Hast du den Paten im Kasten?«, fragte ich Wayne.
»In voller Präsenz«, bejahte er. »Schau mal.«
Er zückte die Kamera und blätterte die Fotos durch.
»Der bedient ja nun wirklich jedes Klischee«, stellte ich fest. »Als sei er einer Operette von Johann Strauss entsprungen. Zigeunerbaron.«
»Nicht alle Klischees sind falsch.«
»Ich weiß. Klischees entstehen in der Wahrheit und entwickeln sich leider unkontrolliert.«
»Wie meinst du das, Grappa?«
»Zigeuner machen Musik, stehlen und klauen Kinder. Das ist ein Klischee. Kannst du mir folgen?«
Wayne grinste. »Ich bemühe mich.«
»An diesem Klischee ist ein Fünkchen Wahrheit. Zigeuner sind musikalisch und haben Freude an der Musik – das beweisen die überlieferten Zigeunerweisen. Dass sie stehlen, stimmt auch. Aber Angehörige anderer Völker stehlen auch, wenn sie nichts zu essen haben. Manche töten sogar deshalb.«
»Und die geklauten Kinder?«
»Geklaute Kinder sind üble Nachrede. Man hat auch den Juden vorgeworfen, dass sie Säuglinge schlachten, um sie für religiöse Rituale zu verwenden.«
»Meine Oma sagte immer zu mir: Holt alles ins Haus, Wäsche, Hühner, Kinder, die Zigeuner kommen!«
»Dich haben sie jedenfalls nicht geklaut«, stellte ich fest.
»Schade, was?«, lächelte Pöppelbaum.
Wir kamen nicht dazu, weitere Nettigkeiten auszutauschen. »Guck mal, da passiert was.«
Ein Polizeieinsatzwagen startete und das Martinshorn ertönte.
»Hinterher!«
Wir sprangen ins Auto und folgten dem Fahrzeug durch die Straßen. Vor einem dreistöckigen Haus stoppte es und zwei Beamte kletterten heraus. Zwei weitere Einsatzwagen und ein großes rotes Löschfahrzeug der Feuerwehr bogen von der anderen Seite in die Straße ein. Kleist und die Bulga-Bullen schälten sich aus einem Pkw.
»Scheint Ärger zu geben«, sagte ich.
»Da oben!« Pöppelbaum deutete auf ein geöffnetes Fenster. Eine junge Frau hockte auf der Fensterbank – ein Bündel im Arm.
»Die will springen«, rief ich.
Pöppelbaum knipste wie ein Wilder.
Die Frau im Fenster schrie etwas. Das Bündel begann zu wimmern.
Kleist gab ein Zeichen und die Feuerwehrleute breiteten ein Sprungtuch aus. Ein weiterer Wagen hielt mit quietschenden Reifen. Maxi Singer und Ivana Rose wurden sichtbar und steuerten Kleist an, der kurz mit ihnen sprach. Ivana nickte und nahm das Megafon.
Was sie sagte, verstand ich nicht, aber die junge Dolmetscherin machte ihre Sache gut. Ihre Stimme wirkte ruhig und der Ton war bittend. Endlich wandte sich die Frau ins Zimmer zurück.
Ivana ließ das Megafon sinken. Sie war bleich und ihre Lippen zitterten.
Wayne stand fünf Meter von Ivana entfernt und hatte alles fotografiert. Obwohl sich die Lage nun entspannt hatte, rührte er sich nicht und ließ Ivana nicht aus den Augen.
Die junge Frau wurde aus dem Haus geführt – das Baby noch immer im Arm. Maxi Singer trat zu ihr. Alle drei verschwanden in einem Notarztwagen.
Wayne wachte auf und machte seinen Job.
»Gut gemacht, Ivana«, lobte ich. »Warum wollte sie springen?«
»Sie hatte Angst, dass man Baby wegnimmt.«
Kleist war nicht zu sehen, dafür standen nun die Bulga-Bullen neben uns. Der eine betrachtete Ivana mit Interesse und machte eine Bemerkung, der andere lachte dreckig.
Ivanas Miene verfinsterte sich. Sie drehte sich um und schrie die beiden an. Die Männer antworteten und ein heftiger Streit entstand. Als einer der Kerle in Ivanas Haar griff, hämmerte sie ihm das Megafon auf den Schädel.
Die Lage war ernst. Der
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